Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Schwindel erfasste sie, dann wurde es dunkel um sie.
Mühsam öffnete sie die Augen, konnte jedoch nichts erkennen. Grober, dunkler Stoff lag auf ihrem Gesicht und versperrte ihr die Sicht. Er kratzte auf ihrer Haut. Sie spürte, wie jemand ihre Arme und Beine packte und sie von dem Karren herunterzerrte. Als ihre nackten Füße die Erde berührten, taumelte sie, aber raue Hände fassten ihre Arme, hielten sie fest. Man hatte ihr nicht nur die Hände gefesselt, sondern sie auch an den Fußgelenken zusammengebunden. Schlagartig wurde sie hellwach. Ihr Puls raste. Cristin bekam unter dem dicken Stoff kaum Luft. Im nächsten Augenblick kehrte die Erinnerung zurück. Sie wollte schreien, um Hilfe rufen, doch etwas Dickes, Nasses steckte in ihrem Mund und löste einen Würgreiz in ihr aus. Geknebelt … ich bin geknebelt. Eine lähmende Schwäche befiel Cristin und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Die Beine knickten ihr ein, aber sogleich wurde sie schmerzhaft in die Höhe gezogen.
»Stell dich hin, Hexe!«, tönte es zu ihr herüber. Die Stimme kannte sie nur zu gut. Fiskal Mangel. »Es ist so weit.« Mit einer raschen Bewegung riss er ihr das Tuch von den Augen.
Cristin blinzelte in die letzten Strahlen der Abendsonne. Mit dem speichelgetränkten Knebel im Mund fiel ihr das Atmen zunehmend schwer, als ein kühler Wind ihr über den geschorenen Kopf fuhr und sie frösteln ließ. Dunkle Wolken türmten sich am Himmel und tauchten den Hügel, auf dem sie stand, in ein unheimliches Licht. Der Schindacker! Kerzengerade verharrte sie. Da standen sie wieder, ihre Ankläger. Richteherr Büttenwart und Kunolf Mangel, Medicus Küppers und der Priester, der auch schon auf dem Friedhof dabei gewesen war, sowie ein knappes Dutzend andere ehrbare Bürger und Ratsmitglieder der Hansestadt. Zwischen den Männern konnte sie eine vertraute Gestalt ausmachen. Ihr Herz schlug schneller. Lynhard! Nun wendete sich vielleicht doch noch alles zum Guten. Gewiss würde er das Wort ergreifen und sie aus ihrer ausweglosen Lage befreien. Da traf sie sein Blick. Er war frostig. Cristin erschrak bis ins Mark. Nicht einmal Lynhard glaubte ihr, erhob nicht die Stimme gegen das schreiende Unrecht, das ihr widerfuhr.
Der Priester trat einen Schritt vor. »Hier, im Angesicht des Todes, ist die letzte Gelegenheit, deine Sünden zu bekennen und das Sakrament der Beichte zu empfangen«, sprach er salbungsvoll. »Dann wird selbst dir der Himmel offen stehen, Cristin Bremer. Denke an den Schächer, der neben unserem Heiland am Kreuze hing und Vergebung empfing. Auch dir wird Gottes Gnade zuteil, wenn du bereust und Buße tust.« Die Hände im Rücken gefaltet und die Augen auf einen fernen Punkt am Horizont gerichtet, machte er einen gleichmütigen Eindruck. »Willst du noch etwas sagen, bevor du vor deinen Schöpfer trittst, meine Tochter?«
Sie nickte. Einer der Fronknechte griff ihr in den Mund und zog den nassen Stofffetzen heraus. Der Priester stierte auf den zerrissenen Ausschnitt ihres Hemdes, das mehr offenbarte als verbarg. Cristin sog die Luft tief in ihre Lungen. Trotz ihrer inneren Erregung klang ihre Stimme fest. »Ich bin weder Eure Tochter noch eine Hexe«, sie spie die Worte förmlich aus. »Ihr jedoch versündigt Euch heute an einem unschuldigen Menschen! Dafür werdet Ihr alle in der Hölle …«
»Schweig!« Eine schallende Ohrfeige des Klerikers ließ sie verstummen. »Du wagst es, mich und die hier Versammelten zu beschimpfen?«
Cristin wendete den Kopf, und ihr Blick fiel auf eine Gestalt, die bisher etwas abseits gestanden hatte. Es war augenscheinlich ein Mann in einem dunklen Umhang, dessen Kapuze sein Gesicht verbarg. Wie ein Dämon, der wartete. Sie erstarrte. Diesen Mann hatte sie schon einmal gesehen. Mit einem Mal spürte sie, wie jeder Blutstropfen aus ihrem brennenden Gesicht wich. Einige Monate war es wohl her, damals auf dem Köpfelberg, auf den Lukas ihr danach zu gehen verboten hatte. Ein fünfzehnjähriger Kirchendieb war dort gefoltert worden und gestorben, und dieser Mann hatte das Urteil vollstreckt. Sie erschauerte, und wieder wurden ihr die Knie weich. Dieser Mann würde auch ihr Henker sein.
Scheinbar unbeteiligt hatte Emmerik Schimpf durch die Augenlöcher seiner Kapuze, die ihn vor Flüchen und dem bösen Blick seiner Opfer schützen sollte, beobachtet, wie zwei Büttel die menschliche Fracht von einem Karren hoben. Wieder eine der vom Wege abgekommenen Seelen, an die ich Hand anlegen darf,
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