Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
und Schwester, genau wie den Bader. Für Baldo war es in diesem Augenblick ein Segen, keine Vergangenheit zu haben. Es ist alles meine Schuld, dachte sie, und der Gedanke sickerte wie Gift durch ihre Adern. Wenn er mich nicht gerettet hätte, würde er noch immer gesund durch die Straßen Lübecks wandeln. Sie biss sich auf die Lippen, während sie sich mit steifen Gliedern erhob, um den schlafenden Verletzten nicht zu stören.
Ludewig betrat mit dem gefüllten Wassersack die Hütte. »Wo willst du hin?«, wollte er wissen und hob eine Braue.
»Ich sehe nach dem Hund.«
»Adam wird schon wieder«, beruhigte der Bader sie. »Er ist jung und stark.«
Cristin nickte, senkte die Lider und ging hinaus.
Sie atmete auf. Eine frische Brise kühlte ihre Haut, und die überschwängliche Freude des Hundes tat ihr gut. Die Tränen, die sie während der vergangenen Minuten so krampfhaft zurückzuhalten versucht hatte, brachen sich nun Bahn und nahmen ihr die Sicht. Sie sank ins Gras und vergrub das zuckende Gesicht im Fell des Tieres. Irgendwann wird seine Erinnerung zurückkehren, dann wird er es bereuen, mich gerettet zu haben. Sie hob den Kopf, wischte die Tränen von den Wangen und blickte auf die Getreidefelder, die sich vor ihr erstreckten, so weit das Auge reichte. Junge Halme bogen sich im Wind wie zu einer Musik, und die Schatten der Bäume auf den sanft geschwungenen Hügeln wurden länger. Es war so friedlich an diesem Ort, dass jede Bedrohung, jedes Leid, beinahe unwirklich erschien. Sie starrte in den nur locker bewölkten Himmel und beobachtete eine Schar Gänse, die lärmend über die Kate hinwegflogen. Sicher hatten sie mit dem Nestbau oder sogar schon der Aufzucht ihrer Brut eine Menge zu tun. Wehmut überfiel sie, während sie ihnen hinterherblickte.
Die Nacht war für die drei schlaflos verlaufen. Baldos Schmerzen hatten zugenommen, er weigerte sich jedoch, weitere Mohnsamen einzunehmen. Ludewig und Cristin hatten sich mit der Wache abgelöst, aber Baldos unterdrücktes Stöhnen und die Sorge, er könnte Fieber bekommen, ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Nachdem sie am frühen Morgen den Verletzten gewaschen und versorgt hatten und er immer noch fieberfrei war, aßen sie rasch ein wenig und tranken Wasser aus dem Bach.
»Ich weiß, es ist zu früh, aber ich muss heute nach Hamburg zurück«, meinte Ludewig und biss in den harten Kanten. »Für Adam ist die Reise nicht ungefährlich, seine frischen Nähte könnten reißen. Meine Vorräte hier gehen allerdings zur Neige, und ich könnte ihn dort besser versorgen.«
Erstaunt blickte sie auf und suchte nach Worten. »Heißt das, Ihr nehmt uns mit zu Euch? In Eure Praxis?«
Ludewig lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Adam braucht noch längere Zeit die Hilfe eines Baders, wenn er wieder gesund werden will.« Er zuckte mit den Schultern. »In meinem Haus ist genügend Platz, wenn ihr wollt.«
»Aber …«, Cristin stockte. »Ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll. Ich kann Euch nicht bezahlen, wir haben kein Geld. Das kann ich nicht annehmen.« Ihre Stimme brach, sie starrte in sein Gesicht und forschte nach den Gründen seines Vorschlages. So eingehend sie ihn auch betrachtete, Stienbergs Miene blieb unbeweglich.
Der Bader beugte sich zu ihr herüber. »Hast du eine bessere Idee, Mädchen? Willst du den Bengel hinter dir herschleifen und hoffen, dass sich sein Zustand nicht verschlimmert, oder wie?«
»Nein … natürlich habt Ihr recht. Ich bin Euch dankbar …«
»Papperlapapp«, unterbrach Ludewig ihr Gestammel und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Keine Sorge, ihr dürft mir alles zurückzahlen.«
»Wie?«
»Ich könnte Hilfe in meiner Praxis gebrauchen, Agnes.« Er ließ sie nicht aus den Augen. »Seit, nun ja, seit einiger Zeit bewirtschafte ich mein Haus und die Praxis allein. Du bist jung und lernst schnell. Ich könnte dich gut einsetzen.«
Vor Freude schoss ihr die Röte in die Wangen, und ihre Lippen zitterten. »Meint Ihr wirklich? Oh, das würde ich gern.« Fort von hier. Wir wären in Sicherheit, dachte sie erleichtert. Erschüttert schlug sie die Hände vor das Gesicht, und als sie den Kopf hob, klang sie gefasst. »Wenn das so ist, nehme ich Euer Angebot mit Freuden an. Ich danke Euch.«
Ludewig schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. »Gut, dann wäre ja alles geklärt. Heute Nachmittag brechen wir auf. Sobald Adam schläft, kannst du mir beim Packen helfen.«
4
V erdammtes
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