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Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerit Bertram
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Hand. In unbeobachteten Momenten beäugte sie die vielen Instrumente und Gerätschaften Ludewigs mit einer Mischung aus Bewunderung und Schaudern. Mittlerweile kannte sie Sinn und Zweck der meisten von ihnen und hatte dem Bader zugesehen, wie und wann er sie einsetzte. Ihr Respekt vor ihm wuchs von Tag zu Tag, denn Ludewig behandelte alle Patienten mit derselben Höflichkeit und Aufmerksamkeit. Darauf angesprochen, erwiderte er, seiner Meinung nach stehe jedem Menschen dieselbe sorgfältige Untersuchung zu, egal ob arm oder reich. Cristin war verblüfft über diese ungewöhnliche Denkweise. Sie kannte keinen Medicus, Wundarzt oder Bader, der ebenso handelte.
    Allerdings war er ein lausiger Koch, und die Gerüche, die aus dem Topf aufstiegen, wenn er das Abendessen zubereitete, ließen keinerlei Rückschlüsse auf den Inhalt zu. Sogar der Hund verweigerte Stienbergs Essen.
    Cristin fühlte sich zunehmend wohl in Ludewigs Nähe, auch wenn er ihr manchmal forschende Blicke zuwarf. Seine lärmende, raubeinige Art zauberte so manches Lächeln in ihr Gesicht. Während der Arbeit war sie viel zu beschäftigt, doch des Nachts, wenn sie mit offenen Augen durch das kleine Fenster der Kammer in den Nachthimmel blickte und auf Baldos Atem lauschte, holte die Vergangenheit sie wieder ein. Cristins Milch war inzwischen versiegt, was sie mit Erleichterung erfüllte. Voller Sehnsucht stellte sie sich vor, wie sie ihre Tochter in den Armen wiegte und ihr über den kleinen Kopf streichelte. Aber immer öfter schoben sich auch Lukas’ bleiches Antlitz und die schrecklichen Tage seines Todeskampfes in ihren Geist. Dann hielt sie sich wach und drückte den Hund fest an sich, aus Angst, diese Bilder könnten sie im Schlaf verfolgen.
     
    Adam schlug die Augen auf. Der Hund schnarchte lauter als jeder Mann. Im Halbdunkel des nur mit einem kleinen Fenster ausgestatteten Raumes konnte er sehen, wie seine Schwester sich aufsetzte, die Decke wegschob und die nackten Beine über die Bettkante schwang. Sie bückte sich und griff nach den Bundschuhen, die der Bader ihr vor einigen Tagen gekauft hatte. Die Schuhe in der Hand schlich sie zur Tür, als sie sich nach ihm umwandte. Er stellte sich schlafend. Einen Augenblick später schloss sich die Holztür leise hinter ihr. Sie schien schon seit einigen Nächten nicht gut zu schlafen.
    Adam streckte sich, denn sein Rücken schmerzte vom langen Liegen. Verdammt noch mal, warum hatte ihm das auch passieren müssen? Er ballte die Faust und schlug auf das Bett. Was hatten er und seine Schwester in diesem Wald zu suchen gehabt?
    Der junge Mann biss die Zähne zusammen und versuchte sein Gewicht zu verlagern, um sich auf die Seite zu legen, wobei ihm vor Anstrengung Schweißperlen auf die Stirn traten. Ermattet sank er schließlich zurück und fluchte. Es war ihm gleich, ob der Bader nebenan es hörte. Wie lange sollte er eigentlich noch untätig im Bett liegen! Ludewig hatte ihm erklärt, er solle froh sein, dass der Unfall für ihn so glimpflich abgelaufen war. Glimpflich, pah! Das verdammte Vieh hatte ihm die halbe Seite und den Oberschenkel aufgeschlitzt. Er atmete tief durch. Na ja, der Bader hatte sicher recht, diese Wildsau hätte ihn umbringen können. Und wenn schon! Dank Ludewigs war er zwar nicht gestorben, aber er hatte trotzdem sein Leben verloren. Das Leben, seine Vergangenheit, alles war aus seinem Gedächtnis verschwunden. Würde er sich irgendwann wieder daran erinnern können?
    Gedankenverloren kaute er an seinem Daumennagel. Mehr als meinen Namen und den meiner Schwester weiß ich nicht. Wo lebt unsere Familie? Habe ich eine Frau und Kinder, die auf mich warten und sich sorgen? Wer bin ich? Adam horchte in sich hinein, suchte nach bruchstückhaften Erinnerungen, die ihm einen Hinweis geben könnten, doch in ihm war nichts als Leere. Dunkle verunsichernde Leere.
    Agnes kehrte in die Kammer zurück, und bald darauf hörte er ihre gleichmäßigen Atemzüge. Mit offenen Augen starrte er an die Zimmerdecke. Meine Schwester. Müsste ich ihr gegenüber nicht etwas empfinden? Vertrautheit, Wärme? Wir sind etwa im selben Alter, müssen also zusammen aufgewachsen sein, haben sicher miteinander gespielt. Da war etwas, ein Gefühl wie … Freundschaft? Nein, das traf es nicht. Was er empfand, war eher so etwas wie … ja, wie der Wunsch, sie beschützen zu wollen. Wie etwas besonders Kostbares, auf das er achten musste. Er hatte in den letzten Tagen viel an sie gedacht, und etwas in ihrer Art

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