Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
zog er sie am Arm in einen schmalen Gang zwischen zwei eng zusammenstehenden Häusern.
Cristin wollte protestieren, sich wehren, doch der Mann legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete ihr zu schweigen. Sie ließ sich von ihm bis an das andere Ende des Ganges ziehen, wo er wachsam den Kopf heraussteckte und lugte zwischen den Häusern hindurchlugte, die den Marktplatz umgaben. »Die Luft ist rein! Komm.«
Zögernd trat Cristin neben ihn ins Freie. Es war niemand zu sehen, und die Erleichterung ließ ihre Knie weich wie Butter werden. »Ich danke dir«, stieß sie immer noch außer Atem hervor.
Er grinste. »Was hast du ausgefressen? Einen Kerl beklaut nach einer Liebesnacht?«
»Wofür hältst du mich, für eine Hure?« Sie wollte sich abwenden, doch seine Hand schnellte vor und hielt sie am Handgelenk fest. »Wenn ich dich beleidigt habe, tut es mir leid. Aber etwas wirst du ja angestellt haben, umsonst schickt niemand Büttel aus. Das weiß jeder.«
»Du weißt überhaupt nichts«, widersprach Cristin heftig. »Lass mich los, du tust mir weh.«
Der junge Mann lockerte seinen Griff, hielt sie jedoch weiterhin fest. »Ich bin übrigens Michel.« Er machte eine Kopfbewegung zu einer kleinen Gruppe von Männern und Frauen hin, die einen Steinwurf entfernt im Schatten eines Planwagens standen. »Ich gehöre zu denen da.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Wer seid ihr?«
»Wir sind Musikanten und Akrobaten – Gaukler eben.« Endlich ließ er ihr Handgelenk los. »Und, wie heißt du?«
»Agnes.« Inzwischen kam ihr der falsche Name so leicht über die Lippen, als hätte sie nie anders geheißen. »Du hast recht. Jemand hat die Büttel nach mir ausgeschickt, aber ich bin unschuldig.« Instinktiv hielt sie nach den beiden Männern Ausschau, die hinter ihr her gewesen waren, doch von den beiden fehlte jede Spur.
Michel nickte. »Die sind weg. So wie die aussahen, geben die allerdings nicht so schnell auf.«
Cristin verzog das Gesicht.
»Warum schließt du dich uns nicht an? Wir verlassen noch heute Abend die Stadt und ziehen weiter nach Lübeck.«
Lübeck. Gewiss, Baldo und sie hatten erst vor ein paar Tagen darüber gesprochen, eines Tages dorthin zurückzugehen, trotzdem … Zurück in die Stadt, in der man ihr so viel Schlimmes angetan hatte?
»Was ist?«
Sie schlug die Augen nieder. »Nichts.«
»Dann komm mit uns. Allerdings – dein Essen und den Schlafplatz musst du dir verdienen.«
Er trat einen Schritt zurück. »Du könntest den Leuten aus der Hand lesen. Mit ein wenig Geschick gehst du glatt als Zigeunerin durch.« Er lächelte. »Das gefällt den Leuten. Wenn du mit uns kommen willst, dann sei eine Stunde vor Sonnenuntergang hier. Wir müssen dann die Stadt verlassen. Über Nacht dulden die feinen Hamburger das Fahrende Volk nämlich nicht in ihren Mauern.« Er spuckte auf das Pflaster. »Wenn wir am Tag auch zu ihrer Belustigung gut sind.«
»Ich … bin nicht allein«, unterbrach sie ihn zögernd. »Mein Bruder … ihr müsstet ihn ebenfalls mitnehmen. Und unseren Hund.«
»Dann kommt ihr eben beide mit uns. Ein Hund ist kein Problem, bringt ihn ruhig mit. Obwohl …«, ein schiefes Lächeln erhellte sein Gesicht. »Na, wir werden sehen.«
Nachdem Cristin Baldo von ihren Erlebnissen auf dem Markt berichtet hatte, starrte er sie entgeistert an. »Wir können doch nicht so einfach …« Ächzend erhob er sich von dem Stuhl und schüttelte heftig den Kopf.
»… Ludewig im Stich lassen?«, vollendete sie seinen Satz. »Glaubst du etwa, mir fällt das leicht?« Den Bader ohne Erklärung oder ein Abschiedswort zu verlassen, war undankbar. »Aber gibt es einen anderen Weg?«, murmelte sie gedankenverloren. Sie mussten noch heute mit den Gauklern die Stadt verlassen.
»Was willst du damit sagen?« Baldos Tonfall war scharf, und seine Hände bohrten sich in ihre Schultern. »Wieso haben wir keinen anderen Ausweg, Agnes? Sprich mit mir!«
Sie löste sich aus seiner Umklammerung. »Du musst mir glauben, Adam. Bitte. Ich werde dir später alles erklären.«
Er stieß scharf den Atem aus. »Gut, Schwester. Das solltest du auch.«
»Pack alles zusammen. Es ist ja nicht viel. Ich werde Ludewig eine Nachricht hinterlassen.« Gewiss würde er erst nach Einbruch der Dunkelheit zurückkommen.
»Du kannst schreiben, Agnes?«
»Ja.« Ohne ein Wort der Erklärung verließ sie den Raum.
Auf Zehenspitzen schlich Cristin durch das Haus. Wie ein Eindringling fühlte sie sich, als sie die
Weitere Kostenlose Bücher