Die Gottessucherin
schlug die Augen auf. Im fahlen Licht des Mondes, das durch die Vorhänge drang, sah sie Tristan. Die Hände erhoben, stand er am Fenster und murmelte ein Gebet, wieder und wieder dieselben Worte. Obwohl noch dunkle Nacht war, trug er einen Hut auf dem Kopf. »Gelobt seiest du, Gott, Herrscher der Welt, der wahrhaftige Richter.«
Wohlig räkelte Brianda sich im Halbschlaf unter ihrer Decke. Auch wenn sie nicht wusste, warum Tristan um diese Zeit betete, wollte sie ihn nicht stören. Sie hörte seine Stimme so gern. Doch während er noch die immer gleichen Worte wiederholte, mischten sich leise Schluchzer in sein Gebet. Verwundert richtete Brianda sich im Bett auf. Weinte er? Weshalb? Plötzlich fiel ihr der Nachmittag ein. Die Verhandlung im Dogenpalast ... Die Nachricht vom Tod ihres Vaters ... Der Streit mit Reyna, ihrer Nichte ...
Fröstelnd zog sie die Decke über ihren nackten Leib.
»Habe ich dich geweckt?«, fragte er und trat an ihr Bett.
Trotz der Dunkelheit sah sie, dass seine Augen nass von Tränen waren, und obwohl er versuchte, sie anzulächeln, bemerkte sie den Schmerz und die Trauer in seinem Gesicht.
Ohne ihm eine Frage zu stellen, begriff sie, warum er gebetet hatte. Er wollte Gott um Verzeihung bitten. Für seinen Verrat an Gracia.
»Bereust du, dass du mich liebst?«
Tristan schüttelte den Kopf. »Ach, Brianda. Wie kannst du nur fragen?«
»Komm zu mir«, sagte sie und streckte die Hand nach ihm aus. »Ich möchte dich noch einmal spüren.«
Er zögerte. Dann setzte er sich zu ihr aufs Bett und legte den Hut ab.
»Wie wunderschön du bist.«
Endlich konnte er wieder lächeln. Und als er ihre Hand ergriff, waren der Schmerz und die Trauer aus seinem Gesicht verschwunden, wie auch die Tränen aus seinen Augen. »Ich bin so glücklich, dein Mann zu sein«, flüsterte er. »Und ich deine Frau.«
Sie schlug die Decke zur Seite, damit er sie sehen konnte, nackt und bloß, wie sie war. Ohne die Augen von ihr zu lassen, knöpfte er sein Hemd auf.
»Ich liebe dich«, sagte er.
»Ich liebe dich auch«, sagte sie.
Als er sich zu ihr herabbeugte und sie küsste, schmeckte sie das Salz seiner Tränen auf ihren Lippen.
23
Ferrara, die Hauptstadt des gleichnamigen italienischen Herzogtums, lag gute siebzig Landmeilen im Südwesten der Republik Venedig, inmitten einer sumpfigen, aber fruchtbaren Ebene, deren Äcker sich von den Wassern des träge dahinfließenden Flusses Po speisten. Alte, kampferprobte Mauern trennten die Felder und Wälder vom Innern der Stadt, und im Schatten der Kathedrale San Giorgio reihten sich die Paläste der vornehmen Adelsfamilien mit ihren facettierten Quaderfassaden entlang der Corsi wie übergroße steinerne Diamanten an goldenen Ketten aneinander.
Von dieser eleganten Pracht unterschied sich das Castello Estense mit seinen wuchtigen, eckigen Türmen sowie seinen massigen Substrukturen in so auffallender Weise, dass kein Zweifel daran aufkommen konnte, wo in Ferrara sich der Sitz der Macht befand. In der erst unlängst erweiterten Festung regierte Herzog Ercole IL, ältester Sohn Lucrezia Borgias, ein dem irdischen Leben und den schönen Künsten gleichermaßen zugewandter Fürst. Als kluger Mann von Welt bemaß er den Wert seiner Untertanen weniger nach ihrem Glauben als nach ihrer Nützlichkeit. Wer einen Beitrag zum Ruhm und Reichtum seines Herzogtums leisten konnte, war ihm willkommen - gleichgültig, zu welchem Gott er betete.
Seit Beginn seiner Herrschaft galt darum Ferrara unter den Juden Italiens als der sicherste Hafen diesseits und jenseits des Apennin. In dem Bestreben, die Hauptstadt seines Landes zu einem Handelszentrum zu erheben, das zu dem ebenso bewunderten wie verhassten Venedig in Konkurrenz treten könnte, lockte der Fürst jüdische Kaufleute an, damit diese sich in seinem Herzogtum ansiedelten. Und wenn es galt, den freien Zuzug seiner neugewonnenen Untertanen zu sichern, scheute er auch nicht davor zurück, sich dem Papst und dessen Vasallen in der Nachbarschaft Ferraras entgegenzustellen. Ja, das Wohlwollen des Herzogs für die Juden war so unermesslich, dass diese inmitten der Stadt, nur einen Steinwurf von der Kathedrale entfernt, eine Synagoge hatten bauen dürfen, um dort unter den Augen der katholischen Obrigkeit ihre jüdischen Rituale zu verrichten. Im Spätherbst des Jahres 1548, die Blätter waren schon von den Bäumen gefallen, traf Gracia Mendes mit ihrer Tochter Reyna sowie einem stattlichen Gefolge in Ferrara ein. Der
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