Die Gottessucherin
der Hoffnung, eines Tages seinen Bruder Benjamin wiederzufinden, seinen einzigen Verwandten, der außer ihm der Verfolgung durch die Dominikaner entkommen war und noch irgendwo in der Heimat lebte. Als christlicher Kaufmann getarnt, kehrte Samuel immer wieder nach Portugal zurück. Im ganzen Königreich suchte er die Gemeinden seiner Glaubensbrüder auf, informierte sie über die Ankunft von Schiffen, mit denen sie außer Landes gelangen konnten, versteckte sie bis zur Abfahrt an geheimen Orten, versorgte sie mit Lebensmitteln und brachte sie an Bord, um sie schließlich bis nach Antwerpen und manchmal sogar bis nach Konstantinopel zu begleiten. Doch jetzt, da die anderen sich auf das große Fest vorbereiteten, war ihm selbst gar nicht nach Feiern zumute. Einsam stand er am Bug der Gloria, und die aufschäumende Gischt, die der Wind ihm ins Gesicht blies, spürte er so wenig wie die brennende Sonne auf seiner Haut. Eine dicke Frau an Bord, Rebecca Gonzales, hatte etwas über Benjamin gewusst. Angeblich hatten die Dominikaner seinen Bruder nach dem Tod der Eltern in eine christliche Familie gegeben, um seine Seele vor der Verdammnis zu retten. Rebeccas Mann, ein Geldverleiher aus Coimbra, hatte davon gehört. Doch wie die Familie hieß und wo sie lebte, das wusste weder der Geldverleiher noch seine Frau.
»Es steht geschrieben: Sieht man Sterne durch das Dach, so ist die Hütte koscher!«
»Ja - Sterne! Aber nicht den ganzen Himmel! Außerdem steht ebenso geschrieben: Bau eine
schöne
Hütte! Und wie sieht diese Hütte aus?«
Samuel schüttelte den Kopf. Kaum waren sie dem Tod von der Schippe gesprungen, stritten sie gleich um das Gesetz, als gelte es ihr Leben. Waren sie Gläubige oder Verrückte? Samuel wusste es nicht. Sein Vater, ein Rabbiner, war genauso gewesen - bis in den Tod hatte er versucht, nach seinem Glauben zu leben. Weil er sich geweigert hatte, Gott abzuschwören, hatten die Dominikaner ihn eingekerkert, zusammen mit seiner Frau, und beide bis zum Hals eingemauert, um sie zur Annahme der Taufe zu zwingen. Nach drei Tagen ohne etwas zu essen und zu trinken waren sie gestorben, mit dem Schma auf den Lippen. Samuel war diese Prüfung erspart geblieben - er war zur gleichen Zeit in Lissabon, um ein Examen abzulegen. Doch warum hatte Gott gewollt, dass er überlebte? Damit er seinen Bruder aus den Händen der Edomiter befreite? Benjamin war fast zehn Jahre jünger als er. Als sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, waren sie in einem See herumgetobt. Benjamin wäre beinahe ertrunken. Samuel hatte damals seinem Bruder versprochen, ihm das Schwimmen beizubringen. Und wahrlich: Was auch immer Gottes Pläne waren - er würde nicht eher ruhen, bis er sein Versprechen eingelöst hätte. »Die Hütte muss sieben Spannen lang sein!« »Aber sie darf nicht höher sein als sieben Spannen!« »Lügner! Soll ich Euch die Wahrheit einprügeln?« Samuel fuhr herum. Wutentbrannt standen der Vorbeter aus Setübal und der Gemeindeälteste aus Porto einander gegenüber, beide mit einer Latte bewaffnet und bereit, aufeinander loszugehen. »Seid Ihr von Sinnen?«, rief Samuel und warf sich dazwischen. »Oder wollt Ihr den Edomitern die Arbeit abnehmen?« »Dieser Mann verstößt gegen das Gesetz!«, rief der Vorbeter. »Und dieser Mann«, rief der Gemeindeälteste, »hat das Gesetz nie studiert!«
Samuel brauchte seine ganze Kraft, um die beiden auseinanderzuhalten.
»Dann hört, was noch geschrieben steht«, sagte er. »Du sollst an deinem Fest fröhlich sein. Fünftes Buch Mose, Kapitel sechzehn, Vers vierzehn.«
»Oh, Samuel Usque ist ein Schriftgelehrter?«, staunte der Vorbeter.
»Ein Rabbiner gar, wie sein Vater?«, fügte der Gemeindeälteste hinzu. »Aber es muss heißen: Dann sollst du
wirklich
fröhlich sein. Fünftes Buch Mose, Kapitel sechzehn, Vers fünfzehn.« »Nein«, widersprach der Vorbeter. »Vor allem steht geschrieben: Seid sieben Tage vor dem Herrn, eurem Gott, fröhlich. Drittes Buch Mose, Kapitel dreiundzwanzig, Vers vierzig.« »Ihr könnt es drehen und wenden, wie Ihr wollt«, erklärte Samuel. »In einem seid Ihr Euch jedenfalls einig!«
»Nämlich?«, fragten die Kontrahenten wie aus einem Munde. »Dass Ihr heute fröhlich sein sollt, statt Euch zu streiten!« Für einen Moment verstummten die beiden. Unschlüssig wiegten sie die Köpfe und zupften an ihren Barten. »Nein, so einfach ist das nicht«, sagte schließlich der Gemeindeälteste. »Es gibt bedeutende Unterschiede im
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