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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Fröhlichsein.« »Allerdings«, stimmte der Vorbeter zu. »Lasst uns also die Arbeit unterbrechen und in der Thora nachlesen. Damit wir es genau wissen und in der richtigen Weise fröhlich sind, statt uns zu versündigen.«
    Samuel schaute den beiden nach, wie sie gestikulierend unter Deck verschwanden. An Bord dieses Schiffes waren Menschen, die alles verloren hatten, was sie besaßen, ihre Heimat, ihre Wohnungen und ihr Geld; Menschen, die mit eigenen Augen hatten zusehen müssen, wie ihre Angehörigen hingeschlachtet oder verbrannt wurden; Menschen, die Tausende von Meilen flohen, um mit dem nackten Leben davonzukommen, zusammengepfercht wie Vieh auf diesem Schiff, in stinkenden und dreckigen Decksräumen - und diese beiden Männer, der Vorbeter aus Setübal und der Gemeindeälteste aus Porto, hätten sich um ein Haar geprügelt, weil sie uneins waren in der Auslegung der heiligen Schriften. Was war der Grund für solchen Wahnwitz? Nur die alte jüdische Gelehrsamkeit? Oder aber war ihr Streit der verzweifelte Versuch, zu retten, was vielleicht gar nicht mehr zu retten war? Die Achtung der Juden vor dem Gesetz - und die Achtung vor sich selbst ... Samuel stellte sich vor, wie er später seinen Kindern von diesem Streit erzählte, doch er hatte Zweifel, dass sie ihm Glauben schenken würden.
    Ohne sich um die anderen Männer zu kümmern, die weiter an ihren Hütten bauten, kehrte er zum Bug des Schiffes zurück, und während er über die wogende See schaute, keimte in ihm ein Entschluss. Sollte es Gott, dem König und Herrn, gefallen, ihn diese Zeit der Heimsuchung überleben zu lassen, so wollte er aufschreiben und berichten, was immer dem Volk Israel geschehen war, im Großen wie im Kleinen, im Guten wie im Bösen, um Zeugnis abzulegen vom Schicksal dieses Volkes, zur Tröstung seiner Leiden.
     

6
     
    Wie ein regierender Fürst hielt Diogo Mendes Hof in seinem Reich. Von seinem Kontor aus, dem größten der Handelsbörse von Antwerpen, dirigierte er ein Heer von Maklern, die in seinem Auftrag ganze Schiffsladungen kauften und verkauften. Gekleidet in seinen Zobel, der mit goldenen Spangen zusammengehalten wurde, den breitkrempigen Hut verwegen auf dem Kopf, gab er nach links und rechts gleichzeitig Anweisungen. Obwohl es in der Halle so heiß wie in einer Schwitzkammer war, kam er keinen Moment in Versuchung, den Pelz abzulegen. Das Cape stand ihm einfach zu gut - es brachte seine schwarzen Locken, die ihm bis auf die Schultern fielen, erst richtig zur Geltung. »Habt Ihr Euch schon entschieden?«, rief Senhor Aragon, der neue Generalkommissar des Kaisers für Converso-Angelegenheiten, mit lauter Stimme gegen den Lärm an. »Welche der beiden Damen werdet Ihr heiraten? Die Schöne oder die Reiche?« Diogo hätte die Frage am liebsten überhört, denn Gracia war ja gerade im Begriff, seine Pläne über den Haufen zu werfen. Während er einen Sack Goldmünzen wegsperrte, verfolgte er mit halbem Auge ein Schauspiel, das sich alle paar Monate im Börsensaal wiederholte. Ein englischer Kapitän, der den Zoll für seine Schiffsladung nicht hatte zahlen können, wurde zum Richtblock in der Mitte der Halle geführt, wo man ihm zur Strafe die rechte Hand abhacken würde.
    »Ich würde den Willen meines Bruders gern erfüllen und seine Witwe heiraten«, erklärte Diogo. »Meine Schwägerin ist eine kluge Frau und sehr geschäftstüchtig. In der Buchführung kennt sie sich schon besser aus als ich. Ich wüsste kaum, wie ich ohne sie auskommen sollte.«
    »Seit wann ist die Liebe eine Sache der Vernunft?«, fragte Aragon. »Ist sie nicht eher eine Sache des Herzens - oder, um genau zu sein, eine Sache des Fleisches?«, fügte er mit anzüglichem Grinsen hinzu. »Aber wie man hört, neigt Ihr wohl inzwischen dazu, der hübschen Schwester den Vorzug zu geben.« »Ihr wisst doch, wie ich über die Ehe denke«, erwiderte Diogo, ohne die Augen von dem Richtblock zu lassen, an dem der Kapitän gerade festgebunden wurde. »Hauptsache, sie nutzt dem Geschäft.«
    Der Henker nahm sein Beil und holte aus.
    »Ein fürchterlicher Brauch«, sagte Aragon. »Man raubt dem Mann nicht nur seinen Arm, sondern auch seine Ehre.« Diogo warf einen kurzen Blick auf den Spanier. Die Ehre, die der stets im Munde führte, wirkte hier ebenso lächerlich wie sein goldener Stierkämpferanzug, sein Spitzbart oder die schwarze Strumpfhose, die er nach spanischer Mode trug. Trotzdem hütete sich Diogo, den Kommissar zu unterschätzen. Aragon genoss

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