Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
mußte. Ganz gewiß habe ich ihm nicht alles beigebracht. Das will ich
Euch dann zur verabredeten Zeit lehren, Ikarier.«
Tränen traten dem jungen Mann in die Augen. »Seid
für mein Leben bedankt, Charonite.«
Nein, ich habe zu danken. Für Euer Leben.
Damit stieg Orr ins erste Boot und wickelte sich in
seinen langen Umhang.
»Seid Ihr bereit?« rief er den Kindern zu, und sie nickten zögernd, weil der Charonite ihnen doch ein wenig
Angst einflößte.
»Dann also los!« Die Kähne setzten sich aus eigenem
Antrieb in Bewegung und steuerten auf den Ausgang an
der gegenüberliegenden Wand zu. Als sie den Tunnel
erreichten, warf der Fährmann einen Blick über die
Schulter. Dornfeder glaubte, unter der Kapuze ein Lächeln zu erkennen.
Als die Boote im Ausgang verschwanden, hörte der
Ikarier, wie eines der Kinder eine Frage stellte.
»Fährmann, macht es Euch etwas aus, wenn wir singen?«
»Im Gegenteil, das wäre mir eine große Freude«, antwortete Orr, und für Dornfeder hörte es sich so an, als sei
es ihm durchaus ernst damit.
Er stieg höher und höher und mußte nicht übermäßig die
Flügel bewegen. Der warme Aufwind, der aus den Tiefen
der Welt strömte, trug ihn immer weiter den Krallenturm
hinauf. Nachdem Dornfeder die unteren Ebenen der
Bergstadt hinter sich gebracht hatte, brauchte er nur noch
eine knappe Stunde, bis er in der Großen Versammlungshalle eintraf.
Hier fand er achtzehnhundert Vogelmenschen vor, die
in aller Ruhe und Gefaßtheit dasaßen. Mitglieder der
Staffel teilten ihm mit, daß es sich bei ihnen um diejenigen Ikarier handele, die sich immer noch weigerten, ihr
Heim zu verlassen. Sonst hielte sich im Krallenturm
niemand mehr auf.
Dornfeder stellte sich auf den Rednerplatz und bewunderte, vielleicht zum letzten Mal, die goldene Marmorfläche mit den violetten Einschlüssen. Die Vorstellung, daß diese fast zweitausend Ikarier lieber sterben
wollten, als die Bergstadt zu verlassen, bestürzte ihn
sehr. Sein Blick wanderte über die hier Versammelten.
Wie viele dieser Gesichter waren ihm vertraut! Bei einem
Antlitz hielt sein Blick an.
Rabenhorst Sonnenflieger, der Krallenfürst aller Ikarier, erhob sich langsam. Er trug seine königlichen violetten Gewänder und hatte auch den edelsteinbesetzten
Halsring, das Zeichen seiner Amtswürde, angelegt. Neben ihm saß Hellefeder. Auch sie zeigte sich in ihrer königlichen Tracht.
»Wir haben beschlossen, hier zu sterben«, erklärte Rabenhorst, »denn wir sind die Ältesten und haben unser
ganzes langes Leben hier verbracht. Deswegen sollen wir
auch hier unser Ende finden.«
»Rabenhorst …« begann Dornfeder und kam nicht
weiter, weil der Fürst eine Hand hob.
»Wir werden nicht fliehen. Nicht vor dem Leben, das
wir kennen. Da draußen entstehen eine neue Welt und
eine neue Ordnung, und wir glauben nicht, daß wir daran
Anteil haben wollen. Vielleicht suchen die Greifen ja den
Krallenturm heim, vielleicht aber auch nicht … Gleich
wie, wir bleiben.«
»Rabenhorst, dazu besteht wirklich kein Anlaß. Ihr alle könnt Euch immer noch in Sicherheit bringen. Folgt
mir bitte …«
»Nein«, beschied der Fürst ihn, griff sich an den Nakken und löste den Halsreif. »Ich glaube, Axis wird Freierfall sein Erbe zurückgeben. Überreicht dies meinem
Sohn. Er soll von nun an der Krallenfürst sein, und ich
bin mir sicher, daß aus ihm ein großer Führer unseres
Volkes werden wird. Ich wünschte, ich könnte ihn noch
einmal sehen, aber das Schicksal hat wohl anders entschieden.«
»Mögen die Sterne Euch strafen!« schrie Dornfeder
und weigerte sich, den Reifen entgegenzunehmen. »So
weit muß es doch nun wirklich nicht kommen!«
»Wir wünschen aber, daß es so kommt«, entgegnete
Hellefeder ruhig von ihrem Platz. »Hat nicht jeder das
Recht, selbst zu bestimmen, was aus seinem Leben werden soll? Wenn wir beschlossen haben zu sterben, wie
könnt Ihr Euch dann hier hinstellen und uns vorwerfen,
das sei falsch?«
Dornfeder fing an zu schluchzen und verwünschte ihre
Halsstarrigkeit. Aber er durfte ihnen wirklich keinen
Vorwurf machen. Nicht, nachdem er selbst dem Fährmann sein Leben angeboten hatte. »Bitte«, flehte der
junge Mann, fiel vor ihnen auf die Knie und breitete die
roten Schwingen aus, »tut es nicht!«
Rabenhorst trat zu ihm, kniete sich vor ihm hin und
nahm Dornfeders Gesicht in seine Hände. »Geht, Geschwaderführer. Nehmt Eure Staffel und verlaßt uns.
Und nehmt das hier mit.« Er schob ihm das
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