Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
Wahrheit gesagt«, flüsterte
Axis. »Ich wünsche bei jedem Stern am Firmament, daß
ich damals den Mut gehabt hätte, sie so zu behandeln,
wie sie es verdiente.«
Aschure hob den Kopf und sah ihn an: »Dann sorgt
dafür, ihr das zu sagen, sobald sich Euch eine Gelegenheit dazu bietet.«
Sie hielten sich eine Weile umschlungen, und jeder
hing seinen eigenen Gedanken nach. »Wann müßt Ihr
fort?« fragte der Krieger schließlich.
»Schon morgen. Seit einigen Tagen plagt mich ein
Drang, mich endlich zu Faraday zu begeben … Heute
nachmittag konnte ich ihn fast kaum noch ertragen. Deswegen will ich morgen in aller Frühe aufbrechen.«
»Aschure …«
»Ich werde für Euch da sein«, versicherte sie ihm,
»und zwar rechtzeitig.«
Imibe stand auf dem höchsten Turm von Sigholt und
hielt das kleine Mädchen auf dem Arm. Sie schaute zu,
wie eine der Kinderschwestern mit Caelum Ball spielte.
Imibe brachte die Kleinen gern jeden Morgen und jeden
Nachmittag hier herauf, damit sie den Sonnenschein genießen und die sanfte Luft, die vom See kam, einatmen
konnten.
Die Tür des Treppenhaus öffnete sich, und der Sternenmann trat mit seiner Gemahlin zu ihnen heraus. Imibe
drehte sich sofort zu ihnen um. Die Zauberin hatte ihr
mitgeteilt, daß sie für eine Woche oder länger fort müsse.
Axis lächelte ihr wie üblich zu, aber um seine Augen
hatten sich Sorgenfalten eingegraben.
Aschure nahm der Kinderfrau das Mädchen ab. Schon
mit ihren dreieinhalb Monaten versprach Flußstern, sich
zu einer wirklichen Schönheit zu entwickeln. Ihr helles
Haar dunkelte bereits zu einem korngoldenen Blond, und
ihre Augen wiesen eine so dunkelviolette Farbe auf, daß
man sie fast für schwarz halten konnte.
»Flußstern«, sagte ihre Mutter leise. Seit man die
Zwillinge voneinander getrennt hatte, spürte Aschure,
wie zumindest bei dem Mädchen die Feindseligkeit von
Tag zu Tag mehr nachließ. Obwohl die Kleine ihr noch
immer kaum Wärme entgegenbrachte, hoffte die junge
Frau doch sehr, daß sie beide eines Tages lernen würden,
einander zu lieben und zu vertrauen. Aschure spürte den
Krieger an ihrer Seite und drehte sich lächelnd zu ihm
um.
»Ist sie nicht wunderhübsch? Sie zeigt schon deutlich
die Tönung der Sonnenflieger.«
Axis berührte Flußstern sanft an der Wange. Er hatte
in der letzten Zeit viele Stunden mit seiner Tochter verbracht. Als sie noch im Mutterleib war, hatte er sie nicht
ausbilden können. Aber jetzt schien die Kleine nichts
mehr dagegen zu haben, von ihm unterrichtet zu werden.
Caelum kam auf wackligen Beinen zu seinem Vater
und hielt sich an seinem Oberschenkel fest. Lächelnd
bückte sich der Krieger, um ihn hochzunehmen. »Und
wie gefällt Euch Eure Schwester, junger Mann?«
Der Knabe betrachtete Flußstern mit gemischten Gefühlen und antwortete: »Vermutlich viel besser, wenn sie
erst laufen und mit mir spielen kann.«
Axis grinste breit, und die Sorgenfältchen um seine
Augen verschwanden. »Neugeborene geben schlechte
Spielkameraden ab, was, mein Sohn? Ich fürchte aber
jetzt schon, daß ich, sobald Ihr beide ein wenig älter geworden seid, mehr als genug Anlaß finden werde, Euch
wegen Eurer Streiche zu ermahnen.«
Noch jemand erschien auf dem Turm, und alle drehten
sich um. Kassna zeigte sich in der Tür und wurde rot, als
sie Axis und Aschure erkannt hatte.
Denn sie hatte Drachenstern mitgebracht.
Caelum drehte den Kopf von seinem Brüderchen weg
und klammerte sich an die Brust seine Vaters. Man hätte
annehmen können, Drachenstern habe ihm vor kurzem
übel mitgespielt.
»Ich habe doch angeordnet, daß dieser Junge von den
anderen Kindern ferngehalten wird!« rief der Krieger
unwirsch, und Kassnas Gesichtsfarbe verwandelte sich in
Dunkelrot. Rasch drehte sie sich um und reichte den Jungen der Kinderschwester, die mit ihr gekommen war.
Dabei flüsterte sie der Magd hastig etwas zu, und diese
verschwand mit Drachenstern im Treppenhaus.
Belials junge Gemahlin näherte sich dem Sternenmann
und der Zauberin. »Verzeiht bitte, Axis«, entschuldigte
sie sich, »aber woher sollte ich denn wissen, daß Ihr oder
Eure anderen Kinder sich gerade zu dieser Stunde hier
oben aufhalten würden?«
Warum zählt Ihr Drachenstern eigentlich nicht zu Euren Kindern? fügte die Nor in Gedanken hinzu. Kassna
und Belial hatten gehofft, daß Axis’ Zorn auf den zweiten Sohn sich im Lauf der Zeit legen und er ihn dann
nicht mehr ablehnen würde. Aber so wie Kassna ihn jetzt
erlebte,
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