Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
mindesten.
»Fühlt Ihr sein Glück?« rief die Edle, und Aschure
konnte sich nicht erklären, wen sie damit meinte. Den
neuen Wald? Den Baum Mirbolt? Aber sie spürte das,
wovon Faraday sprach. Fremde Kräfte durchströmten
ihren Körper, von einer ungewohnten und nicht eben
angenehmen Art.
Und dann tauchten sie selbst auf, um sich ins Tal zu
ergießen.
Dies war tatsächlich das Lied des Erdbaums, gesungen
mit solcher Macht und Innigkeit, daß Aschure es nicht
nur spüren konnte, sondern geradezu zu sehen glaubte.
Alles, was diesen Kräften im Weg stand, würde fortgerissen und in den Nordra geschleudert. Das enge Tal
mit seinen steilen Felswänden verstärkte das Lied tausendfach, wirkte wie ein gewaltiges Echo, in dem sich
ein Geräusch verfängt und hin und her geworfen wird.
Bald ließ sich die Wucht dieses Gesanges nicht mehr
ertragen, und alle, sogar Faraday, hielten sich die Ohren
zu und schlossen fest die Augen, während das Lied des
Erdbaums an ihren vorbeirauschte und in den neuen
Wald jagte.
Danach trat Stille ein.
Törichterweise öffneten die Frauen wieder Augen und
Ohren.
Noch einen Herzschlag lang herrschte Stille.
Dann fiel das gesamte Bardenmeer unbändig laut und
glücklich in den Gesang ein. Es war wie ein Orkan.
Faraday fiel gegen Aschure, und diese legte die Arme
schützend um sie. Mit ihrer eigenen Zaubermacht schuf
sie einen Schutz gegen die Allgewalt des singenden
Walds.
Ganz Tencendor erbebte. Menschen wie Ikarier
schrien erschrocken und klammerten sich an Möbel oder
aneinander, während das Lied über sie hinwegfegte. Aber
keine Schmerzen oder Leiden blieben zurück. Der unerwartete machtvolle Ansturm versetzte die Bewohner
Tencendors nur kurze Zeit in Angst, die danach rasch
wieder verging.
Der erste Ausbruch des Liedes beruhigte sich bald
wieder und wurde zu einem reinen Gefühl und dann zu
der reinsten Form von Macht. Nur die, die sich im Schutze des Waldes befanden, konnten diese Macht spüren, die
durch die Baumkronen fuhr und die Blätter zum Erzittern
brachte.
Nur die, die selbst fremde Macht besaßen, konnten das
Lied des Waldes hören.
Tief in der Eisfestung warf Gorgrael den Kopf in den
Nacken und kreischte, bis sein Geschrei durch die Eiswände hallte und allen Bewohnern durch Mark und Bein
fuhr.
»Hexen! Hexen! Hexen! Ihr beide seid nichts als elende Hexen!«
Zu seinen Füßen lag das kleine Menschenkind, wand
sich und schrie ebenfalls. Doch nicht aus ohnmächtiger
Wut wie der Riese über ihm, sondern aus nackter Angst.
Kratzer, Striemen und blaue Flecken bedeckten seinen
geschundenen Körper.
Aschure blinzelte. Was war geschehen? Warum hatte sie
plötzlich das Gefühl, eine Katastrophe bahne sich an?
Lag das nur daran, daß das Lied plötzlich nicht mehr zu
hören war? Die junge Frau öffnete den Mund, kam aber
nicht dazu, etwas zu sagen.
Faraday schloß gerade die Augen und lehnte sich mit
der Stirn an den Stamm Mirbolts. »Dank sei Euch, Mutter. Seid zutiefst bedankt.«
Nun nahm sie die Hand der Zauberin und legte sie an
die Rinde, so wie Jack das vor so langer Zeit mit der ihren im Wald der Schweigenden Frau getan hatte.
»Aschure und Mirbolt«, erklärte sie mit einer Stimme
voll mächtigster Kraft, »lernt einander kennen und vertraut einander.«
Die Edle drehte sich zu ihr um.
Aschure starrte sie mit großen Augen an und nickte
kurz, denn sie fühlte, wie sie von Mirbolt angenommen
wurde.
Faraday seufzte. »Bewahrt dies in Eurem Herzen:
Wenn Aschure Euch ruft, müßt Ihr ihr unbedingt beistehen. Am besten zusammen mit Euren Schwestern. Und
Ihr, Aschure, hört: Wenn Axis nach den Bäumen ruft,
obliegt es Euch, sie zu rufen.«
»Ich bezeuge dies«, erklärte Schra mit klarer und deutlicher Stimme und legte ihre Hand auf die der beiden
Frauen.
»Nein, nein, so geht das doch nicht!« rief Aschure.
»Ihr seid die Baumfreundin, nicht ich … Denn … denn
ich habe bereits zuviel von Euch genommen, da kann ich
nicht auch noch das … Bitte, zwingt mich nicht dazu.«
Aber die Edle lächelte: »Ich habe meine Aufgabe als
Baumfreundin erfüllt. Meine Arbeit bestand darin, die
Bäumchen anzupflanzen …«
»Und den Wald dann an Axis’ Seite zu führen«, wandte Aschure ein. Bei den Sternen! Sie wollte ihr Gewissen
nicht auch noch damit belasten!
»Das könnt Ihr genauso gut erledigen wie ich, Aschure. Außerdem wartet auf mich noch die Aufgabe, dem
Sternenmann die Awaren zuzuführen. Denn ohne die
Waldläufer wäre alles verloren.«
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