Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
Rivkah
genausowenig Bescheid wußte wie Kassna. »Gorgrael«,
antwortete Aschure dann nur.
»Oh Sterne!« schrie Rivkah. »Gorgrael! Aber war
um?«
»Was glaubt Ihr denn, Rivkah? Vielleicht weil es ihm
immer so allein in seiner Eisfestung zu langweilig geworden ist?« Aschures Stimme donnerte durch die Halle,
und die Nor fuhr entsetzt zurück. Noch nie hatte sie die
Zauberin so außer sich erlebt.
»Natürlich um Axis oder mich in eine Falle zu locken,
deswegen!«
»Und was wollt Ihr nun unternehmen, Aschure?«
Die Jägerin starrte sie an. »Ihm nacheilen. Ich kann
nicht anders. Wie sollte ich Caelum schutzlos dem Zerstörer überlassen?«
»Aber Ihr habt doch gerade gesagt, daß er …«
»Mich in eine Falle locken will? Natürlich wird er das
versuchen. Aber besser, wenn er mich gefangennimmt,
als Axis …« Sie schwieg kurz. »Besser ich finde den Tod
als er.«
Aschure drehte sich auf dem Absatz um und stürmte
aus der Halle.
Oben auf dem Turm herrschte Stille. Der Mond badete
den Ort in seinem Licht. Dennoch war Caelums übergroße Angst hier noch zu spüren. Wenn Aschure die Augen
schloß, fühlte sie seine Schreie, sah durch seine Augen,
wie der Schatten aus dem Himmel stürzte, und zuckte
zusammen, als Imibes Blut durch die Luft spritzte.
Die Jägerin verbarg das Gesicht in den Händen und
weinte. Was sollte sie nur tun? Die junge Frau hatte bei
ihrem Sturmritt nach Sigholt fast alle ihre Kräfte erschöpft. Könnte sie ebenso rasch zur Eisfestung gelangen? Nein, das war ausgeschlossen. Selbst wenn sie noch
frisch und voller Energie wäre, würde sie auf diese Weise
viele Tage, wenn nicht Wochen brauchen, um in die
Tundra zu gelangen.
Und bis dahin wäre Caelum sicher tot. Selbst wenn der
Zerstörer ihn nicht ermordete, würde das kleine Kind an
seiner Angst zugrundegehen. Und wenn sie es nicht vermochte, ihn noch in dieser Nacht zu retten, würde diese
Erfahrung sein ganzes Leben lang wie eine schmerzende
Narbe zurückbleiben.
Die Jägerin sank auf die Knie, brach dann auf dem
Steinboden zusammen, und ihre Stirn ruhte auf den kühlen Platten.
Caelums Leben war verwirkt. Wenn nicht schon heute
nacht, so doch sicher sehr bald.
Sie weinte, bis ihre Augen leer waren. Dann richtete
sie sich wieder auf, bis sie sitzen und sich gegen die Brüstung lehnen konnte, und wußte nicht ein noch aus. Immer noch schluchzend wischte sie sich die Tränenspuren
von den Wangen.
»Wartet, laßt mich das für Euch erledigen.«
Aschure fuhr erschrocken zusammen, obwohl sie
gleich erkannt hatte, wem diese angenehme Stimme gehörte.
Der oberste Sternengott ließ sich neben ihr nieder,
drückte sie an sich, hielt sie wie ein Kind und trocknete
mit seinen weichen, warmen Händen sanft ihr Gesicht.
»Adamon, ich …«
»Ich weiß Bescheid, meine Liebe.«
»Warum muß ausgerechnet Caelum derjenige sein, der
so leidet? Wieso nicht ich? Oder Axis?«
»Habt Ihr und der Krieger nicht schon genug gelitten?
Warum wünscht Ihr nun neues Leid über Euer Haupt?«
»Aber mein Sohn …«
»Ganz ruhig«, flüsterte er in ihr Haar und drückte sie
fest an sich. »Caelum lebt noch, denn er besitzt einen so
starken Körper und Geist wie seine Eltern.«
»Doch …«
»Ich weiß, Aschure. Aber jetzt hört mir zu.« Adamon
rückte so weit von ihr ab, damit sie ihm in die Augen
blicken konnte. »Ihr hattet recht, als Ihr Rivkah sagtet,
Gorgrael habe das nur getan, um Axis in eine Falle zu
locken. Aber von Euch weiß er nichts, Euch kennt er
nicht. Der Zerstörer ahnt nichts von der Stärke Eurer
Liebe oder Eurer Entschlossenheit. Damit bleibt Euch
eine winzige Möglichkeit, ihn zu überraschen und so
Euren Sohn zu retten.«
Die Jägerin griff sofort nach dem Strohhalm, den er
ihr bot. »Wie fange ich das an? Kann ich einfach so in
die Eisfestung hineinstürmen? Vermag ich ihn zu vernichten, wie mir das bei Artor gelungen ist?«
Adamon setzte ein leichtes Lächeln auf, hinter dem er
seine Unruhe zu verbergen wußte. »So viele Fragen.
Aschure, zur Errettung Caelums müßt Ihr all Euren Mut
und all Euren Listenreichtum aufbieten. Gorgrael läßt
sich nicht mit Artor vergleichen; denn er ist ungeheuer
gefährlich, viel bedrohlicher als es der Pfluggott je war.
Wenn es dem Zerstörer gelingt, Euch in eine Falle zu
locken und Euch zu stellen, bricht die Prophezeiung auseinander und Axis muß sterben.«
»Warum?«
»Weil der Zerstörer dann Euch in seiner Gewalt hätte
– die Liebste Axis’, wie es in der Weissagung heißt,
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