Die Gouvernante und ihr geliebtes Ungeheuer („Geliebte Widersacher“) (German Edition)
er die Hand seiner Cousine von seinem Arm.
„Was tust du?“, fragte sie.
„Was glaubst du?“ Die Worte waren knapp und kurz angebunden. „Ich werde mit Lady Elaine tanzen.“
Aber sie missverstand sein kämpferisch gerecktes Kinn, denn statt besorgt zu wirken, verzogen sich ihre Lippen zu einem listigen und erfreuten Lächeln. „Oh Evan“, hauchte sie und berührte ihn ganz leicht am Ärmel. „Du bist wirklich furchtbar, sie derart zu hänseln. Es wird wie in alten Zeiten sein!“
L ADY E LAINE W ARREN BETRACHTETE die Wände des Ballsaales. Die Stelle auszuwählen, wo sie den Abend über stehen würde, war jedes Mal eine Aufgabe, die Fingerspitzengefühl und Umsicht forderte. Über die Jahre war es leichter geworden, als die Größen der Gesellschaft neue Unterhaltung gefunden hatten, die interessanter war, als sich über sie lustig zu machen. Sie hatte inzwischen ein paar wenige Freunde, echte Freunde. Es gab immer wieder Abende, manchmal sogar mehrere hintereinander, an denen sie nicht ihre ganze Aufmerksamkeit darauf verwenden musste, eine unbeteiligte, leicht dümmliche Miene beizubehalten. Sie musste nur ihre Gesellschaft sehr sorgfältig aussuchen.
Diese Hausgesellschaft war überwiegend sicher. Sie hatte ihre Mutter genauestens zu der Gästeliste befragt. Keine ihrer engsten Freundinnen war gekommen, aber ihre übrig gebliebenen Quälgeister waren ebenfalls nicht anwesend. Ihre Mutter hatte teilnehmen wollen, um sich die Zeit zu vertreiben, solange Elaines Vater in Übersee weilte und sich um die dortigen Besitzungen der Familie kümmerte.
„Es ist ein sehr schöner Saal“, sagte sie zu ihrer Mutter. „Himmel, sieh dir nur die Schnitzereien an der Wandtäfelung an. Die Details sind von erlesener Qualität.“
Ihre Mutter, Lady Stockhurst, wirkte erstaunt, dann blickte sie zur Wand. Wie Elaine auch war Lady Stockhurst hochgewachsen und blond. Wie Elaine war ihre Mutter gut gebaut, von der Natur großzügig bedacht, sodass ihr Korsett ihre vollen Rundungen kaum in Zaum halten konnte. Wie Elaine war ihre Mutter nicht sehr angesehen in der guten Gesellschaft.
Wenn sie so taten, als seien sie mehr an den Wänden als am Tanzen interessiert, drohte ihnen auch keine Enttäuschung.
„Himmel, Mrs. Arleston“, hörte sie hinter sich eine Stimme, „was für eine reizende Gesellschaft.“
Elaine erstarrte, drehte sich aber nicht um. Das musste sie auch nicht, schließlich war sie nicht angesprochen. Aber sie kannte diese Stimme. Es war Lady Cosgrove – eine der Damen, denen es immer noch Freude bereitete, Elaine zu piesacken.
Sie beugte sich zu ihrer Mutter vor. „Du hast nichts davon gesagt, dass Lady Cosgrove hier sein würde.“
„Ach, nein?“, erwiderte ihre Mutter. „Wie unaufmerksam von mir. Ich muss es vergessen haben. Oder vielleicht wusste ich es auch gar nicht?“
Anders als Elaine entging es ihrer Mutter irgendwie, wie wenig sie gemocht und geachtet wurde.
„Lassen Sie mich Ihnen einen alten Bekannten vorstellen“, sagte Lady Cosgrove.
Die gemurmelte Vorstellung war zu leise, als dass Elaine etwas davon verstanden hätte. Statt weiter zu lauschen, nickte sie und lächelte. „Lass nur, Mutter. Es ist nichts.“ Und vielleicht war es wirklich nichts. So wenige von Lady Cosgroves Gesinnungsgenossen waren hier. Sie würde doch ihr Spielchen nicht ohne die Anwesenheit von Zuschauern treiben, oder?
„Ja“, sagte Lady Cosgrove gerade, „aber sehen Sie doch. Hier ist ja eine weitere alte Freundin. Lady Elaine, wie geht es Ihnen?“
Elaine konnte unmöglich eine so direkte Frage ignorieren. Entschlossen setzte sie ein Lächeln auf, bis ihre Gesichtsmuskeln schmerzten.
„Lady Cosgrove“, begann sie freundlich, dann glitt ihr Blick zu der Gestalt hinter der Frau. Ihre Hände wurden eiskalt. Sie verstummte mitten in der Begrüßung, fühlte sich, als habe sie einen Schlag in die Magengrube erhalten. Für eine Sekunde nur geriet ihr Lächeln ins Wanken, und Lady Cosgroves Lippen verzogen sich schadenfroh.
Aber Elaine konnte sich nicht dazu bringen, unbekümmert zu lächeln. Nicht während das hier geschah.
Sie war in einen Albtraum geraten: die Sorte, in der man einen Ballsaal betrat und entsetzt feststellte, dass man nur Unterwäsche trug. Sie hatte diesen Traum früher schon gehabt. Bald würden alle anfangen, über sie zu lachen. Und wenn sie sich in Masse zu ihr umdrehten, dann hatten die Leute, die sie verspotteten und auf sie deuteten, alle dasselbe Gesicht: tausend
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