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Die Graefin Charny

Die Graefin Charny

Titel: Die Graefin Charny Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandre Dumas
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verwundert an, und sagte mit ungewöhnlich sanfter Stimme:
    »Warum laufen Sie mir denn nach, lieber Kleiner? Was wollen Sie von mir?«
    »Ich will Sie sehen«, erwiderte der Knabe. »Ich will Sie recht oft sehen und Sie küssen.« Dann setzte er leise hinzu: »Ich will Sie
Mutter
nennen!«
    Die junge Dame schrie laut auf, nahm den Kopf des Knaben in beide Hände, zog ihn an sich und drückte einen langen Kuß auf seine Stirn.
    Dann lehnte sie sich zurück, und als ob sie gefürchtet hätte, daß ihr jemand den Knaben rauben werde, zog sie ihn ganz in den Wagen, schob ihn auf die andere Seite und zog selbst die Wagentür zu.
    »Nach meiner Wohnung!« sagte sie, das Fenster niederlassend und sogleich wieder aufziehend: »Rue Coq-Héron Nr. 9, das erste Haustor von der Rue de la Plâtrière.«
    Dann sagte sie zu dem Knaben:
    »Dein Name?«
    »Sebastian.«
    »O komm, Sebastian, an mein Herz!«
    Der Weg war nur ein einziger langer Kuß zwischen Mutter und Sohn. Diesen Knaben, denn ihr Herz hatte keinen Augenblick gezweifelt, daß er es sei, diesen Knaben, der ihr in einer entsetzlichen, angstvollen Nacht geraubt worden war, sie hatte ihn wiedergefunden; er erkennt sie wunderbarerweise, eilt ihr nach, verfolgt sie, nennt sie Mutter; ohne sie jemals gesehen zu haben, liebt er sie zärtlich, so wie sie ihm ihr Mutterherz öffnet, und ihr Mund, den nie fremde Lippen berührt haben, findet alle Freuden ihres verlorenen Lebens wieder in dem ersten Kusse, den sie ihrem Kinde gibt!
    Es schlug sechs, als sich das Haustor auf den Ruf des Kutschers auftat, und der Wagen vor der Tür des Pavillons anhielt.
    Andrea wartete nicht einmal, bis der Kutscher vom Bocke stieg, sie öffnete die Wagentür, sprang zuerst auf die erste Stufe der Außentreppe und zog Sebastian mit sich fort. Nachdem sie die Tür des Vorzimmers sorgfältig hinter sich abgeschlossen hatte, eilte sie in ihren Salon, wo sie Sebastian auf ein Sofa zog.
    »O mein Kind, mein liebes Kind!« sagte sie in überschwenglicher Freude, in der noch ein leiser Zweifel bebte, »bist du es denn wirklich?«
    »Mutter!« antwortete Gilbert mit einer Gefühlsinnigkeit, die wie erfrischender Tau das ungestüm pochende Herz Andreas durchdrang.
    »Und hier! hier!« rief sie, indem sie sich umsah, in demselben Salon, wo sie Sebastian geboren hatte, und mit Entsetzen nach dem Zimmer hinblickte, wo er ihr entrissen worden war.
    »Hier?« wiederholte Sebastian. »Was meinen Sie damit, Mutter?«
    »Ich meine damit, mein Kind, daß es bald fünfzehn Jahre sind, als du in diesem Zimmer geboren wurdest, und daß ich der Gnade des Allmächtigen danke, der uns nach fünfzehn Jahren so wunderbar wieder zusammengeführt hat.«
    »Wir haben uns nun wiedergefunden,« sagte der Knabe, »und du freust dich so darüber. Wir werden uns doch nicht mehr verlassen, nicht wahr?« Andrea war betroffen. »Mein armes Kind,« seufzte sie, »wie glücklich würdest du mich machen, wenn du das fertig brächtest.«
    »Höre,« sagte Sebastian, »ich werde es schon machen. Die Gründe, die dich von meinem Vater getrennt haben, kenne ich nicht ...«
    Andrea erblaßte.
    »Aber wie wichtig diese auch sein mögen, so werden sie doch vor meinen Bitten, und wenn es sein muß, vor meinen Tränen verschwinden.«
    »Nein ... nie!« sagte Andrea.
    »Höre,« erwiderte Sebastian, »mein Vater ist mir von Herzen gut ...«
    Andrea ließ die Hände des Knaben los, er schien es nicht zu beachten, und vielleicht bemerkte er es gar nicht. Er fuhr fort:
    »Ich will ihn auf ein Zusammentreffen mit dir vorbereiten, ich will ihm sagen: Da ist sie; sieh nur, Vater, wie schön sie ist!«
    Andrea stieß den Knaben von sich und stand auf.
    Sebastian sah sie an; sie war so blaß, daß er sich vor ihr fürchtete.
    »Nein, nie!« wiederholte sie.
    »Und warum«, stammelte er, »willst du meinen Vater nicht sehen?«
    »Ich will es dir sagen«, antwortete Andrea, die ihren Groll nicht länger zurückzuhalten vermochte; »weil dein Vater ein elender, schändlicher Mensch ist!«
    Sebastian sprang vom Sofa auf und trat vor die Gräfin hin.
    »Von meinem Vater sagen Sie das, Madame?« rief er, »von meinem Vater? Von dem Doktor Gilbert, der mich erzogen hat! Das sagen Sie von dem Manne, dem ich alles verdanke, den ich liebe und verehre! Ich habe mich geirrt, Madame, Sie sind meine Mutter nicht.« In diesem Augenblicke wurde das Haustor geöffnet, und ein Wagen rollte in den Hof.
    Andrea war so erschrocken, daß dem Knaben ebenfalls ganz bange

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