Die Graefin Charny
zu stellen,« sagte Charny, »darf ich Sie hier besuchen?«
Andrea sah ihn an; ihr sonst so ruhiges, leidenschaftloses Auge nahm einen lebhafteren Ausdruck an.
»Allerdings, Graf«, erwiderte sie; »ich werde ganz zurückgezogen leben, und ich werde Ihnen jederzeit dankbar sein, wenn Sie mir Ihre freien Augenblicke widmen.«
»Haben Sie wenigstens alles, was Sie brauchen?«
»Ich werde hier alles finden, was ich vormals hatte.«
»Lassen Sie doch sehen«, sagte Charny, der sich einen Begriff von der künftigen Wohnung seiner Gemahlin machen wollte.
»Was wollen Sie sehen, Graf?« fragte Andrea, die hastig aufstand und einen Blick auf das Schlafzimmer warf.
»Aber wenn Sie nicht gar zu bescheiden in Ihren Wünschen sind, Gräfin, so ist dieser Pavillon eigentlich keine Wohnung. Ich bin durch ein Vorzimmer gekommen, hier bin ich im Salon. Diese Tür«, und er öffnete eine Seitentür, »führt in einen Speisesaal, und diese?«
Andrea trat schnell zwischen den Grafen und die Tür, auf die er zuging, und hinter der sie in Gedanken Sebastian stehen sah.
»Graf,« sagte sie, »ich bitte Sie, keinen Schritt weiter!«
»Ja, ich verstehe,« sagte Charny, »diese Tür führt in Ihr Schlafzimmer.«
»Ja, Graf«, stammelte Andrea kaum vernehmbar.
Charny sah die Gräfin an, sie war blaß und zitterte; der Schrecken sprach deutlich aus ihren Gesichtszügen.
»Oh! Ich wußte wohl, daß Sie mich nicht lieben«, sagte er tief bewegt; »aber ich wußte nicht, daß Sie mich hassen.«
Er schien nicht imstande zu sein, länger bei Andrea zu bleiben, ohne seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen; er wankte wie ein Betrunkener, und alle seine Kräfte sammelnd, stürzte er mit einem Schmerzensruf, der tief in Andreas Herz drang, zum Zimmer hinaus.
Andrea folgte ihm mit den Augen, bis er verschwunden war; sie lauschte, der Wagen rollte davon; sie war in einem unbeschreiblichen Gemütszustände; sie fühlte, daß sie ihrer ganzen Mutterliebe bedurfte, um die andere Liebe zu bekämpfen. Noch einen Augenblick lauschte sie, es war alles ruhig, dann riß sie die Tür des Schlafzimmers auf und rief:
»Sebastian! Sebastian!«
Aber niemand antwortete ihr, und vergebens erwartete sie ein tröstendes Echo auf diesen Angstruf.
»Sebastian, Sebastian!« Keine Antwort.
Erst jetzt bemerkte sie, daß das Fenster offen war, und daß der Wind das Nachtlicht hin und her trieb.
Es war dasselbe Fenster, das man bereits vor fünfzehn Jahren offen gefunden hatte, als das Kind zum ersten Male verschwunden war.
»Oh! Ich hätte es mir denken können«, stammelte sie; »er sagte ja, daß ich seine Mutter nicht sei!«
So hatte sie denn alles verloren, ihr Kind und ihren Gatten, und in dem Augenblicke, als sie alles wiederzufinden glaubte! Erschöpft und halb bewußtlos warf sie sich auf das Bett. Sie hatte keine Willenskraft, sie hatte keine Gebete mehr, sie konnte nur klagen und weinen und schluchzen.
Plötzlich schien es ihr, als ob sich noch etwas Schrecklicheres zwischen diesen ihren Schmerz und ihre Tränen drängte; sie richtete sich langsam auf; ihr ganzer Körper bog sich, wie unter dem Einfluß einer unsichtbaren Gewalt, ihre Augen glaubten durch den feuchten Nebel ihrer Tränen hindurch zu bemerken, daß sie nicht mehr allein war. Gilbert, der durch das Fenster gekommen zu sein schien, stand vor ihr.
5. Kapitel
Es war wirklich der Doktor Gilbert, der in dem Augenblicke, als sich der Lakai auf Isidors Geheiß erkundigt hatte, bei dem Könige war.
Als er von der Audienz zurückkam, traf er mit dem Vicomte von Charny zusammen, der ihn zu dem Vorzimmer führte, in dem Sebastian gewartet hatte. Aber Sebastian war nicht mehr da. In großer Sorge eilten Doktor Gilbert und der Vicomte durch die Gänge nach dem Ausgang, wo sie erfuhren, daß Sebastian mit einer Dame nach der Rue Coq-Héron Nr. 9 gefahren sei. Nun wußte Gilbert, daß sein Sohn seine Mutter gefunden hatte. Er verabschiedete den Vicomte und eilte nach dem Hause Andreas.
Mit den Verhältnissen noch genau vertraut, näherte er sich ihrem Schlafzimmerfenster und sah auf dem Bette eine regungslose weibliche Gestalt liegen, aus deren Munde leise Klagetöne kamen, die von Zeit zu Zeit durch einen lauten Angstruf unterbrochen wurden.
Gilbert näherte sich langsam, als er nahe genug stand, zweifelte er nicht mehr, es war Andrea, und sie war allein. – Aber wie kam es, daß sie allein war, und warum weinte sie? Das konnte Gilbert nur durch eine Unterredung mit ihr
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