Die Graefin Charny
der Kellner und bat Ihre Majestäten im Namen Barnaves, die Wohnung im ersten Stock huldreichst annehmen zu wollen.
Ludwig XVI. und Marie Antoinette sahen einander an. Der Dauphin lief in den Salon, dessen Tür der Kellner geöffnet hatte, und fragte:
»Wo ist mein Freund Barnave?«
Die Königin folgte dem Dauphin, und der König folgte der Königin. Barnave war nicht im Salon.
Graf von Charny hatte sich auf den Wink der Königin zurückgezogen und war nicht wieder erschienen. Er freute sich, daß ihm der Befehl der Königin eine kurze Ruhe und Zeit zu ungestörtem Nachdenken gab.
Seit zwei Tagen, seit dem Tode des geliebten Bruders, seit der Stunde, wo ihm der Herzog von Choiseul die bei Isidor gefundenen Papiere übergeben hatte, war ihm kaum ein Augenblick geblieben, sich seinem Schmerz zu überlassen. So war es ihm lieb, eine Dachstube für sich zu finden.
Er setzte sich an einen Tisch und zog die mit Blut befleckten Papiere aus der Tasche, nahm einen Brief und öffnete ihn.
Der Brief war von der armen Katharina. – Charny hatte dieses Liebesverhältnis längst geahnt. Aus diesem Briefe ersah er nun, daß Katharina Mutter war, und aus den einfach rührenden Worten, mit denen sie ihre Liebe ausdrückte, sprach das zarteste, innigste Gefühl; jede Zeile war eine Sühne für den Fehltritt des vertrauenden, liebenden Mädchens.
Dann fand Charny einen Brief, dessen Schriftzüge ihn überraschten. – Es war Andreas Handschrift; der Brief war an ihn adressiert.
An diesem Briefe hing ein mit Isidors Siegel befestigtes Billett, es enthielt folgende Zeilen:
»Dieser Brief ist an den Grafen Olivier von Charny adressiert; er ist von der Gräfin von Charny geschrieben. Wenn mir ein Unglück begegnen sollte, so wird der Finder dieses Papieres ersucht, es dem Grafen Olivier von Charny zuzustellen oder der Gräfin zurückzuschicken.
Diese hat mir den Brief mit folgender Weisung übergeben: Wenn der Graf sein Unternehmen glücklich ausführt, soll dieser Brief der Gräfin zurückgegeben werden. Wenn er schwer verwundet wird, soll er gebeten werden, daß er seiner Gemahlin erlaube, zu ihm zu kommen. Wenn er tödlich verwundet wird, soll ihm dieser Brief übergeben werden, und wenn er ihn nicht selbst lesen kann, soll man ihm denselben vorlesen, damit er vor seinem Ende das darin enthaltene Geheimnis kennenlerne.
Gleichzeitig bitte ich meinen Bruder, für die arme Katharina Billot zu sorgen, die mit meinem Kinde in dem Dorfe Ville-d'Avray wohnt.
Isidor von Charny.«
»Ich habe nicht das Recht, diesen Brief zu öffnen«, sagte der Graf nach einer langen Pause; »aber ich werde sie selbst bitten, daß sie mir erlaubt, ihn zu lesen ...«
Am nächsten Morgen wurde die Reise fortgesetzt. Die Hitze war drückend. Der König bemerkte wiederholt, daß Madame Elisabeth sehr ermüdet war und sich auf dem Vordersitze kaum zu halten vermochte; er bot der Prinzessin seinen Platz an, den sie erst auf seinen ausdrücklichen Befehl annahm.
Pétion saß dabei, ohne seinen Platz anzubieten. Barnave errötete, er verbarg beschämt sein Gesicht.
Um vier Uhr nachmittags kamen die Reisenden nach Meaux. Der Wagen hielt vor dem bischöflichen Palaste.
Die Königin warf einen Blick auf das düstere Gebäude und sah sich nach einem Arme um, auf den sie sich stützen könnte, um in den Palast zu gehen.
Barnave war da. – Die Königin lächelte ihm zu, und Barnave beeilte sich, ihr mit großem Anstände den Arm zu bieten.
Die Königin zog Barnave durch die Gemächer des bischöflichen Palastes mit fort. Es schien fast, als ob sie vor etwas fliehen wolle.
In einem Zimmer blieb sie endlich fast atemlos stehen. Wie durch Zufall befand sie sich einem weiblichen Porträt gegenüber.
Sie warf zerstreut einen Blick auf das Bild, und las auf dem Rahmen die Worte: Madame Henriette.
»Ja, Madame Henriette«, sagte Barnave; »aber Henriette von England ... nicht die Witwe des unglücklichen Karl I., sondern die Gemahlin des herzlosen Philipp von Orleans. Es wäre mir lieber,« setzte er nach einigem Zögern hinzu, »wenn es das Porträt der anderen wäre!«
»Warum denn?« fragte Marie Antoinette.
»Weil nur wenige Menschen einen guten Rat zu geben wissen, den besten geben noch jene, deren Mund der Tod geschlossen hat.«
»Können Sie mir sagen, was mir die Witwe Karls I. raten würde?« fragte die Königin.
»Wenn Eure Majestät befehlen, so will ich's versuchen«, erwiderte Barnave.
»›OH! Schwester‹, würde Ihnen jener Mund sagen,
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