Die Graefin Charny
Bemerkung; sie durchsuchten ihre Taschen und gaben alles hin, was sie bei sich hatten.
Erst jetzt erfuhr Clery, daß der König noch am selben Abend in den großen Turm gebracht werden sollte.
Bis zum Abend ereignete sich nichts Neues. Bei jedem Geräusch, bei jedem Aufgehen einer Tür pochte den Gefangenen das Herz, und sie reichten einander die Hände.
Der König blieb länger als gewöhnlich in dem Zimmer der Königin; aber endlich schlug die Scheidestunde. – Die Tür ging auf und sechs Munizipalbeamte erschienen mit einem neuen Dekret des Gemeinderates, das sie dem Könige vorlasen.
Es war der offizielle Befehl zur Übersiedelung in den großen Turm.
Dieses Mal vermochte Ludwig XVI. seine gewohnte Ruhe nicht zu bewahren. Der Abschied war lang und schmerzlich. Alle fühlten eine ahnungsvolle Bangigkeit und blickten mit Schaudern und Tränen in die Zukunft. Endlich mußte der König den Beamten folgen; die Tür schloß sich hinter ihm mit einem dumpfen, grauenerregenden Tone, der den Zurückbleibenden jede Hoffnung, jeden Trost nahm.
Man hatte sich so sehr beeilt, den Gefangenen diesen neuen Schmerz zu bereiten, daß die neue Wohnung noch nicht eingerichtet war. Es waren nur zwei Stühle und ein Bett darin, und die frische Ölfarbe verbreitete einen unerträglichen Geruch.
Der König ging zu Bett, ohne eine Klage zu äußern. Clery blieb die Nacht auf einem Sessel.
Am andern Morgen kleidete der Kammerdiener den König an und wollte sich dann in den kleinen Turm begeben, um den Dauphin anzukleiden. Es wurde ihm nicht gestattet, und einer der Hüter sagte zu ihm: »Sie haben mit den übrigen Gefangenen nichts mehr zu tun; der König wird seine Kinder nicht mehr sehen.«
Dieses Mal hatte Clery nicht den Mut, seinem Herrn die traurige Kunde zu überbringen.
Der König verlangte um neun Uhr zu seiner Familie geführt zu werden.
»Wir haben keinen Befehl dazu«, sagten die Kommissare.
Ludwig XVI. blieb allein mit Clery. Beide waren sehr niedergeschlagen.
Eine halbe Stunde nachher erschienen zwei Beamte mit einem Aufwärter aus einem Kaffeehause, der dem König ein Stück Brot und ein Glas Limonade brachte.
»Meine Herren,« fragte Ludwig XVI., »könnte ich nicht mit meiner Familie speisen?«
»Wir werden die Befehle des Gemeinderates einholen«, antwortete man.
»Und wenn ich nicht hinuntergehen kann, so kann doch mein Kammerdiener gehen; er bedient meinen Sohn, und ich hoffe, daß es ihm auch künftig gestattet sein wird.«
Der König sprach diese Frage so sanft und ohne alle Bitterkeit aus, daß die Kommissare ganz erstaunt waren und nicht wußten, was sie antworten sollten; man hatte etwas ganz anderes erwartet als diesen Ton, dieses Benehmen, diesen mit Würde ertragenen Schmerz.
Clery war geblieben; er stand noch regungslos an derselben Stelle und sah seinen Herrn mit unaussprechlicher Bangigkeit an.
Der König nahm das Stück Brot, brach es in zwei Hälften und reichte die eine dem Kammerdiener.
»Armer Clery,« sagte er, »man scheint Ihr Frühstück vergessen zu haben; nehmen Sie die Hälfte von meinem Brot, ich habe an der andern genug.«
Clery wollte es nicht annehmen, aber der König ließ nicht nach und drängte ihm das Brot auf. Clery nahm es schluchzend. – Auch der König weinte.
Um zehn Uhr führte man die Handwerker herein, die in der Wohnung arbeiteten. Einer der Beamten trat auf den König zu und sagte mit inniger Teilnahme:
»Ich war bei dem Frühstück Ihrer Familie und bin beauftragt, Ihnen zu sagen, daß sich alle wohlbefinden.«
Der König fühlte sich leichter; die Teilnahme dieses Mannes tat ihm wohl.
»Ich danke Ihnen,« antwortete er, »könnte ich nicht einige Bücher bekommen, die ich in dem Zimmer der Königin gelassen habe? Haben Sie die Güte, sie mir zu schicken.«
Der Hüter war sogleich bereit, diese Bitte zu gewähren; aber er konnte nicht lesen und war daher in Verlegenheit. Endlich ersuchte er Clery ihn zu begleiten.
Clery war sehr erfreut, es wurde ihm Gelegenheit geboten, der Königin Nachricht von ihrem Gemahl zu bringen.
Als Clery erschien, standen die Königin, Madame Elisabeth und Madame Royale auf, alle drei sahen ihn fragend an, aber ohne ihn anzureden. Der kleine Dauphin eilte auf ihn zu und sagte: »Da ist mein guter Clery!« Leider konnte Clery nur wenige abgemessene Worte sagen, aber die Königin vermochte ihren Gefühlen nicht länger Zwang anzutun, sie wandte sich unmittelbar an die Hüter und sagte zu ihnen:
»Oh, meine Herren, warum
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