Die Graefin der Woelfe
Platz für die Gräfin.«
»Ihr Brief handelt auch von dir, sie hat bis zuletzt an dich gedacht.« Elena ergriff die Hand der Hebamme, blickte ihr ins Gesicht. »Ich habe keine Freundin auf dieser Welt, willst du mir deine Freundschaft schenken?«
Margeth erhob sich, trat der jungen Frau entgegen. Schließlich stellte sie sich vor Elena, die mit flachem Atem das lange Ausbleiben einer Antwort registrierte.
»Bitte, Komtess, verstehen Sie mich recht. Ich möchte gern, sehr gern Ihre Freundin sein. Allein, vorher müssen wir eine Aufgabe erfüllen.«
Am folgenden Morgen brachen sie früh auf. Margeth begleitete Elena bis an die Mâlse, wenige Meter vor der Stelle, wo die Frauen ihre Wäsche wuschen. Von dort aus ging Elena zu Fuß weiter.
Ihr erster Weg führte sie in die Veitskirche zum Grab ihrer Mutter, wo sie ein paar Blumen niederlegte, ohne noch einmal die gleiche Nähe zu verspüren, wie sie sie am Vortag nach Amalias Zeilen verspürt hatte. Einen weiteren Strauß legte sie auf Jakobus’ Grab, dessen verwittertes Kreuz sie auf dem Friedhof entdeckt hatte. Nun stand ihr nur noch der Aufstieg zum Schloss bevor.
Alles war, wie Margeth es vorhergesagt hatte. Auch wenn niemand auf der Straße zu sehen war, so spürte sie doch die Blicke der Zwinzauer in ihrem Rücken. Noch immer erschüttert von dem, was Margeth ihr erzählt hatte, stieg sie den Hügel hinauf. Immer größer ragte das Schloss vor ihr auf. Ihr Eigentum, das Haus, für das ihre Mutter so viel gehofft und gebangt hatte und das ihr letztlich kein Glück gebracht hatte. Der Garten war verwildert, niemand kümmerte sich um das Anwesen. Elena schritt zur Kapelle, versuchte, an den Begräbnisstätten ihrer Vorfahren zu beten. Es fiel ihr nicht leicht. Die Jahre im Kloster hatten es ihr schwer gemacht und der Brief ihrer Mutter nahezu unmöglich. Unbeholfen schlug sie das Kreuz über der Gruft und verließ die Schlosskapelle.
Die Tür im hinteren Teil war noch immer nur angelehnt, gerade so, wie Margeth sie verlassen hatte. Drinnen roch es modrig. Tiere hatten Zuflucht in den Räumen gesucht, überall lagen Unrat und Schmutz.
Elena tastete sich durch die Dunkelheit. Sie öffnete eine weitere Tür und stand in einer Kammer, die von einem Eichentisch mit vielen Stühlen dominiert wurde. Sie sog die modrige Luft ein. Das musste der Wohntrakt des alten Schlosses gewesen sein. Hier hatte ihre Mutter gezeichnet und Marijke gestickt. Ihre Hand strich ehrfurchtsvoll über die alte Eiche. Elena schritt die Treppe empor, Stufe für Stufe nach oben, folgte den Erklärungen der Hebamme und stand bald vor der geöffneten Tür der Galerie.
Neugierig betrachtete sie die Gemälde an der Wand; ihre Vorfahren. Langsam senkte sie den Blick zu Boden, und obwohl sie vorbereitet war, erschrak sie doch über das, was sie sah. Jede Vorwarnung von Margeth griff zu kurz. Elena hielt sich für einige Atemzüge die Hände vor die Augen, ehe sie sich stark genug fühlte, das Bild, das sich ihr bot, in sich aufzunehmen. Da lag das Porträt ihrer Mutter, der Kopf vom Rumpf getrennt. Enthauptet war sie, wie von einem blutrünstigen Scharfrichter zerstückelt, den Hals zerschnitten, den restlichen Körper, in hellblauem Jagdgewand, mit dem Gewehr noch in der Hand, achtlos weggeworfen. Elena schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. Unendlich zart trat sie zu Amalias Bild, kniete nieder und strich über die Leinwand, fasste beide Teile sorgfältig zu einem Ganzen.
Ihre Mutter war auf dem Bild so alt wie sie selbst, die Ähnlichkeit überwältigend. Mit selbstverständlicher Ruhe legte Elena sich nieder, schmiegte ihren Kopf an die Brust der Mutter. So lag sie, tastete nach der gemalten Hand, prüfte die Größe der Finger und bemerkte, dass sie gleichgroß waren. Eine tiefe Zärtlichkeit umfing sie. Sie lauschte Amalias Worten und es war ihr, als könnte sie ihre Stimme hören. Glücklich schloss Elena die Augen. Die Sonne stieg höher, erreichte ihren Zenit.
Elena blickte in das Antlitz ihrer Mutter. Es würde immer jung und schön bleiben, ein Leben lang. Sorgfältig rollte sie die Leinwand zusammen, Margeth wartete.
6. Kapitel
Herbst 1744
E r war am Ziel seiner Träume. Viele Jahre hatte er dafür gearbeitet und oft nicht mehr daran geglaubt, seinen Triumph noch erleben zu können. Doch jetzt stand er vor dem kleinen Laden in der Liebfrauengasse, wenige Atemzüge von der Erfüllung eines langen Lebens entfernt. Er war alt geworden, seine Schritte, einst
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