Die Graefin der Woelfe
hatte sie gemocht und lange Jahre auf ihren nächsten Besuch gewartet. Elena stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte angestrengt nach der Kutsche, die in halsbrecherischer Geschwindigkeit näher kam. Jetzt konnte sie die Frau erkennen, die das Gefährt lenkte. Sie trug einen guten Reisemantel und einen großen Hut, unter dem noch immer dichtes Haar hervorquoll. Es leuchtete nicht mehr feuerrot, sondern hob sich in silbernem Glanz vom dunkelgrünen Hut ab. Elena suchte nach ihrem Namen. Doch er wollte ihr nicht einfallen, dafür erinnerte sie sich an etwas anderes. Sie war eine Hebamme. Nicht nur irgendeine Hebamme, sie war ihre Hebamme gewesen, diese Frau hatte sie zur Welt gebracht. Elenas Herz schlug einen Schlag schneller. Eilfertig rannte sie zum Tor, durch das die Kutsche jeden Augenblick auf den Klosterhof rumpeln würde. Sie war also doch nicht ganz allein auf der Welt.
»Ich nehme nicht an, dass Marijke jemals über mich gesprochen hat?«
Sie saßen einander beim Essen gegenüber. Elena war froh, dass Margeth nun endlich ihr Schweigen brach.
»Nein, aber ich weiß, wer Sie sind, Sie sind die Hebamme, Sie haben mich ein paar Mal besucht, als ich noch ein Kind war.«
»Ich bin nur eine einfache Frau, ich heiße Margeth und es stimmt, ich habe Sie auf die Welt geholt, Komtess. Bitte sprechen Sie mit mir wie mit einer einfachen Frau.«
Margeth wirkte freundlich und Elena spürte, wie ihr Herz warm wurde.
»Warst du wirklich eine Freundin meiner Mutter?«
Margeth nickte.
»Warum hat Marijke niemals etwas davon erwähnt?«
»Marijke war eine gute Frau, sie hat ihr Leben für Ihre Mutter gegeben, sie hätte niemals etwas Schlechtes getan. Aber, sie war – ach, es ist lange her und sie hat dafür gesorgt, dass der Gräfin Letzter Wille erfüllt wird. Sie hat Jelko zu mir geschickt. Hier, nehmen Sie, es ist der Brief Ihrer Mutter.«
Elenas Hand zitterte. Hier lag er, der Brief, die Worte der Mutter, auf die sie ein Leben lang gewartet hatte. Elena weinte. Vor ihr auf dem Tisch lag alles, was sie von ihrer Mutter hatte. Worte von ihr, deren Stimme sie nicht erinnerte, Worte von einer Mutter, für die sie kein Gesicht hatte, eine Mutter, die sie nicht vergessen hatte. Die Zeilen, die hier vor ihr lagen, bewiesen, dass der schwarze Doktor gelogen hatte.
Für Elena , stand auf dem Kuvert. Das war der Beweis. Von der Mutter eigener Hand geschrieben und, so hatte es Marijke geschildert, wenige Stunden vor ihrem Tod mit eigener Hand versiegelt. Elenas Hand zitterte, als sie den Brief ergriff. Sie stand auf, ging einige Schritte und drehte sich wieder um.
»Ich, ich …«
»Ich warte hier, kommen Sie zu mir, wenn Sie so weit sind.«
Elena nickte der Hebamme dankbar zu. In ihrer Kammer las sie die Zeilen wieder und wieder. Längst war die Schrift von ihren Tränen verwischt, doch sie starrte noch immer auf das Blatt. Die Zeit verrann, ohne dass sie dessen gewahr wurde. So also war sie gewesen. Wild und frei, klug und mit einer besonderen Gabe ausgestattet.
Elena lächelte. Sie wusste genau, welche Gabe ihre Mutter gemeint hatte. Sie kannte die Gabe, seit sie denken konnte, wenngleich sie bei ihr nicht nur den Tieren vorbehalten war. Elena hatte diese Gabe auch im Umgang mit den Menschen. Sie wusste, wenn sie krank waren und wenn sie sterben mussten. Aber sie wusste auch, wenn sie leben konnten und wie.
Einmal, ganz am Anfang, hatte sie einer der Schwestern davon erzählt. Danach war sie klug genug, zu schweigen.
Wieder flogen ihre Augen über die kaum noch lesbaren Zeilen. Ihre Lippen formten die Worte ihrer Mutter nach.
Sie erwachte erst aus ihrer Andacht, als die Kerze mit einem Zischen verlosch.
Auf leisen Sohlen machte sie sich auf den Weg zum Schankraum. Margeth hatte sich auf eine der harten Bänke gelegt, vom Wirt mit einer Decke ausgestattet. Mit Elenas Eintreten erwachte sie.
»Du warst ihr in all den Jahren eine Freundin.«
Margeth nickte.
»Warum hast du sie dann am Ende ihres Lebens verlassen?«
Die Hebamme zuckte zurück. »Es ist eine lange Geschichte …«, ihre Stimme klang dunkel und traurig, »die ich selbst nie ganz verstanden habe.« Margeth seufzte, doch Elena hielt ihre Augen weiter auf das Antlitz der Hebamme geheftet. Schließlich fuhr sie fort. »Marijke hat Ihre Mutter sehr geliebt, jetzt sind beide tot und man spricht nur Gutes über die Toten. Ich will nur eines dazu sagen. Im Herzen Ihrer Mutter gab es Platz für uns beide, aber in Marijkes Herz gab es einzig
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