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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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wenn Briony fortginge, aber es würde sie nicht ängstigen, so wie sie die Abwesenheit des Königs ängstigt. Ein Königreich ohne seinen Monarchen ist wie ein Mensch ohne Herz. Selbst Vaters Tod — die Götter mögen uns unseren Vater lange erhalten — wäre besser als diese Abwesenheit!«
    Alle reagierten mit schockiertem Schweigen auf diese an Hochverrat grenzenden Worte, aber Barrick wußte, sein Bruder hatte recht — obwohl es alle zu überspielen versuchten, war die Abwesenheit des Königs für die Markenlande eine Art Tod bei lebendigem Leibe, so unnatürlich wie ein Jahr ohne Sonne. Und jetzt sah Barrick erstmals die Anspannung hinter den scheinbar so unverstellten Zügen seines Bruders, die ungeheure Besorgnis und Erschöpfung. Barrick konnte sich nur fragen, was Kendrick noch vor ihm verborgen hatte.
    Die übrigen Edelleute nahmen die Debatte auf. Es zeigte sich rasch, daß Shaso und Gailon die Minderheit waren und Tyne, Rorick und selbst Konnetabel Brone dachten, da Briony ja ohnehin eines Tages politisch nutzbringend verheiratet würde, könne man doch ihre Jungfräulichkeit auch jetzt für etwas so Wertvolles wie König Olins Rückkehr eintauschen. Allerdings waren außer Tyne nur wenige so ehrlich, offen einzugestehen, daß der Plan auch den Vorteil hatte, ihnen eine Menge Golddelphine zu sparen.
    Die Gemüter erhitzten sich, und die Diskussion wurde laut. Es ging sogar so weit, daß Avin Brone einem Edelmann namens Ivar von Silverhalden drohte, ihm den Schädel einzuschlagen, obgleich beide dieselbe Position vertraten. Schließlich gebot Kendrick Ruhe.
    »Es ist spät, und ich bin immer noch nicht zu einer Entscheidung gelangt«, erklärte der Prinzregent. »Ich muß nachdenken und das Ganze erst einmal überschlafen. In einem hat mein Bruder Barrick recht — es geht um meine Schwester, und ich würde niemals leichtfertig etwas tun, das für sie so schwerwiegende Folgen hat. Morgen werde ich meine Entscheidung verkünden.«
    Er erhob sich. Die anderen standen ebenfalls auf und wünschten ihm eine gute Nacht, obwohl immer noch Spannung in der Luft lag. Barrick war mit vielem unzufrieden, beneidete aber keinen Moment seinen älteren Bruder, der wie ein Bullenbeißer nach den Fersen dieser reizbaren Stiere schnappen mußte, um sie beisammenzuhalten.
    »Ich möchte mit dir reden, Kendrick«, erklärte er, als sein Bruder die Kapelle verließ. Die Leibwache des Prinzregenten hatte sich bereits in dessen Rücken zu einer stummen Mauer formiert.
    »Heute abend nicht mehr, Barrick. Was du denkst, weiß ich. Ich habe noch viel zu tun, ehe ich schlafen kann.«
    »Aber ... aber, Kendrick, sie ist doch unsere Schwester! Sie hat schreckliche Angst — ich war bei ihrem Gemach und habe sie weinen hören ...!«
    »Schluß jetzt!« schrie ihn der Prinzregent fast schon an. »Bei Perins Hammer, kannst du mich nicht in Frieden lassen? Außer, du hättest irgendeine wundersame Lösung für dieses Problem, will ich von dir heute abend nichts weiter als Ruhe.« Trotz seiner Wut schien Kendrick selbst den Tränen nahe. Er wedelte mit der Hand. »Kein Wort mehr.«
    Barrick konnte nur wie betäubt dastehen und seinem Bruder nachblicken. Als Kendrick stolperte, griff einer der Wächter behutsam zu und stützte ihn.

    »Genug jetzt, Briony. Ich kann dir nicht mehr sagen — noch nicht. Ich muß die ganze Sache erst einmal überdenken und bereden. Du bist meine Schwester, und ich liebe dich, aber ich muß hier regieren, solange unser Vater nicht da ist. Geh zu Bett.«
    Sie lag im Dunkeln, beschäftigt mit dem, was Kendrick ihr vor wenigen Stunden erklärt hatte, und überhaupt mit diesem ganzen schrecklichen Tag. An Schlaf war nicht zu denken — obwohl ihre Jungfern, den Geräuschen nach zu urteilen, dieses Problem nicht hatten: Wie immer schnarchte die hübsche, kleine Rose wie ein alter Hund. Briony war kurz eingedöst, dann aber von einem schlimmen Traum geweckt worden, in dem Ludis Drakava — den sie in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte und von dem sie nur wußte, daß er etwa so alt war wie ihr Vater — ein uraltes Gespenst aus Spinnweben, Staub und Knochen war, das sie durch einen unwegsamen grauen Wald jagte. Sie dachte, ob es wohl solche Träume waren, die Barrick Schlaf und Gesundheit raubten.
    Wie spät ist es?
fragte sie sich. Noch hatte sie die Mitternachtsglocke des Tempels nicht gehört, aber es mußte bald soweit sein.
Ich bin bestimmt die einzige in der ganzen Burg, die noch wach ist.
    In anderen Zeiten

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