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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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steckst du?«
    Die beiden anderen Bediensteten, sein alter Diener und die Haushälterin (die es gerade noch geschafft hatten, vor Chaven zu Hause zu sein, indem sie im Laufschritt von einer Versammlung aufgeschreckter Bürger auf dem von Fackeln erhellten Platz zwischen Westanger und Rabentor zurückeilten), verdrückten sich schleunigst in den Gängen des Observatoriumsgebäudes, froh, daß sich die finstere Stimmung ihres Herrn gegen jemand anderen richtete.
    Der junge Mann erschien und wischte sich die Hände am Kittel ab. »Ja, Herr?«
    Chaven verzog das Gesicht ob der schwarzen Fingerspuren auf Tobys Arbeitskleidung, war aber erstaunt, den Burschen zu so früher Stunde bei seinen Pflichten zu finden; normalerweise war es schon schwer, ihn zur Arbeit zu bewegen, wenn die Sonne bereits hoch am Himmel stand. »Bring mir etwas zu trinken. Wein — dieser torvische Krätzer steht schon offen auf meinem Nachttisch. Bei den Göttern, die Welt ist aus den Fugen.«
    Der junge Mann zögerte. Chaven erkannte Angst hinter seiner üblichen Verdrossenheit. »Gibt ... wird ... wird es jetzt Krieg geben?«
    Chaven schüttelte den Kopf. »Wie kommst du darauf?«
    »Frau Jennikin und Henrik sagen, der Kronprinz ist tot, Herr. Ermordet. Mein Vater hat mir erzählt, als Olins Bruder gestorben ist, hätte es beinah Krieg gegeben.«
    Der Arzt bezwang den Impuls, den armen Tropf zu beschimpfen. Jeder hier auf der Burg hatte Angst — er selbst war in all den Jahren seit seiner Flucht aus Ulos nie so verzweifelt gewesen. Warum sollte es dem Jungen anders gehen? »Ja, Toby, der Kronprinz ist tot. Aber als Olins Bruder Lorick starb, waren die Markenlande reich und unbedroht, und so schien es allen möglichen ehrgeizigen Edelleuten den Versuch wert, anstelle des minderjährigen Thronfolgers sich selbst oder eine nützliche Marionette auf den Thron von Südmark zu hieven. Jetzt aber wird die Regentschaft wohl dem jungen Barrick zufallen, und für das, was auf uns zukommt, wird bestimmt niemand die Verantwortung übernehmen wollen, also werden sie dem Jungen wohl gern die Ehre überlassen, den Thron seines Vaters warmzuhalten.«
    »Dann gibt es also keinen Krieg?« Toby ignorierte Chavens Sarkasmus, als wäre er eine Fremdsprache. Er konnte seinem Herrn nicht in die Augen sehen und hielt den Kopf gesenkt wie ein sturer Ziegenbock, der sich nicht durch ein Gattertor bugsieren lassen will. »Ist das wahr, Herr? Seid Ihr Euch sicher?«
    »Sicher bin ich mir nie«, sagte Chaven. »In bezug auf gar nichts. Und jetzt geh und hol mir den Wein und vielleicht ein bißchen Käse und Brot und Dörrfisch, und dann laß mich nachdenken.«
     
    Er ließ den Wandbehang wieder vors Fenster fallen. Draußen war es immer noch dunkel, obwohl der Wind schon nach Morgengrauen roch, was beruhigend hätte sein sollen, es aber nicht war. Der Wein half nichts gegen den Druck in seinem Schädel, gegen die Angst, daß das, was er hier miterlebte, der Beginn eines Zusammenbruchs war, der womöglich so rasch voranschreiten würde, daß ihn nichts mehr aufzuhalten vermochte. Er hatte sich schon einmal inmitten eines solchen Desasters befunden, wenn auch nicht in Südmark: So etwas wollte er kein zweites Mal mitmachen. Und von all den Menschen, die in dieser Nacht hier in der Burg mit der grausigen Ermordung des Prinzregenten konfrontiert gewesen waren, wußte nur er von der Verschiebung der Schattengrenze.
    Es gab da Fragen, die er noch vor dem Zubettgehen stellen wollte — stellen mußte. Ungewöhnliche Fragen.
    Der Gedanke war schon in jenem ersten schrecklichen Moment aufgetaucht, als er auf Kendricks blutigen Leichnam herabgeblickt hatte, und zerrte seither an ihm, viel stärker noch als die Gier nach Wein, die er eben befriedigt hatte. Er hatte versucht, dagegen anzukämpfen, da dieses Verlangen mit einiger Scham behaftet war und er sich geschworen hatte, ihm nicht so bald wieder nachzugeben. Aber er beruhigte sich damit, daß dies wahrlich eine Ausnahmenacht war, eine Nacht, die es rechtfertigte, die eigenen Regeln außer Kraft zu setzen. Und (sagte er sich weiterhin) was er auf diese Weise erfahren würde, könnte sich als rettend erweisen — nicht nur für ihn, sondern für das ganze Königreich.
    »Kloe?« rief er leise. Er schnippte mit den Fingern und sah sich suchend um. »Wo steckst du, meine Schöne?«
    Sie kam nicht gleicht, vielleicht weil er, nachdem er ihr gemeinsames Bett so hastig und rüde verlassen hatte, schon seit einer Stunde wieder zurück

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