Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
war gescheitert. Sie hatte sich Haarfestiger verordnet, der allerdings längst aufgegeben hatte. Es sah aus, als hätte sie ein lange verlassenes Vogelnest auf dem Kopf.
»Dann kommen Sie man rein«, sagte sie und ging durch eine Küche weiter in einen großen, hölzernen Vorbau, den man von der Straße aus nicht sehen konnte. Es war ein sehr großer Raum mit einer Glasfront in einen Garten, der vollkommen verwildert war.
»Hier sitze ich immer«, sagte sie. »Nehmen Sie doch Platz. Vielleicht trinken wir erst mal einen Kurzen. Einmal kurz, einmal lang, sage ich immer.« Sie öffnete eine der Schnapsflaschen und goss drei kleine Gläschen voll. Dann köpfte sie drei Flaschen Bier und stellte drei Gläser dazu. »Prost«, sagte sie und kippte den Schnaps hinunter.
»Mir nur einen Schluck Bier, bitte«, sagte Müller.
»Mir ist das zu früh«, erklärte Svenja.
»Ich kann mich über Madeleine immer noch aufregen«, sagte Ulrike Wagner. »Aber das Kind war ja auch furchtbar.« Das kräftige Rot auf ihren Lippen ließ den Mund wie eine breite Wunde aussehen.
»Uns geht es darum, zunächst mal einen Einblick in das Leben Ihrer Tochter zu bekommen«, erklärte Müller sachlich. »Ich möchte betonen, dass sie nicht gesucht wird. Nicht von der Staatsanwaltschaft und nicht von der Polizei. Nun haben wir unklare Nachrichten, dass sie in der letzten Zeit viel Geld verdient hat, und wir wissen nicht einmal, womit sie das Geld verdient hat. Was kann sie denn so gut, dass sie ihre Dienste verkaufen könnte?«
Die Frau zeigte ein völlig verblüfftes Gesicht mit großen Augen. »Was sie gut kann? Ach, du lieber Gott. Lügen kann sie verdammt gut. Lügen und bescheißen, die Leute übers Ohr hauen, solche Dinge. Da sitze ich als Mutter hier im Haus und muss mich für dieses Kind schämen. So ging das immer schon, die ganze Zeit.« Sie goss sich einen weiteren Schnaps ein und stürzte ihn hinunter. Dann trank sie das Bier direkt aus der Flasche. Ihre Hände zitterten.
»Wann ist sie denn hier ausgezogen?«, fragte Svenja.
»Direkt nach ihrem achtzehnten Geburtstag. Den haben wir noch hier gefeiert. Dann hat sie Rocky das Messer in den Oberschenkel gerammt und ist weg, noch in derselben Nacht.«
»Einfach so? Oder mit ihren Dingen, mit Koffern und Taschen?«, fragte Müller sehr sachlich.
»Ohne alles! Nur mit den Klamotten, die sie am Leibe trug.«
»Und wo ist sie hin?«, fragte Svenja.
»Das weiß ich doch nicht!«, sagte die Mutter empört.
»Wer ist denn Rocky?«, fragte Müller.
»Ein alter Freund«, antwortete sie. »Er käme nie mehr in mein Haus, hat er damals gesagt, so was könne man ihm nicht bieten, so was nicht! Und dann ist er ja auch lange nicht mehr gekommen. Ich sage immer, man wird für seine Kinder bestraft, man weiß nie, was die alles anstellen.«
Müller fragte nach. »Und sie hat diesem Rocky ein Messer in den Oberschenkel gestoßen?«
»Jawohl, ein verdammt scharfes Fleischermesser aus der Küche. Richtig tief, fehlte nicht viel, und es wäre auf der anderen Seite wieder rausgekommen.«
»Und Sie haben den Notarzt gerufen?«, fragte Svenja.
»Habe ich«, sagte sie. »Musste ja sein, sonst wäre Rocky doch verblutet. Das war richtig schlimm, und das Blut tropfte hier auf die Dielen.«
»Und Ihre Tochter ist dann verschwunden? In derselben Nacht?«, fragte Svenja.
»Für immer!«, sagte sie. »Für immer!«
»Und sie war nie mehr hier?«, fragte Müller.
»Angeblich ist sie noch ein paarmal hier gewesen. Bei ihren Kumpels. Aber nicht bei mir. Nie mehr.« Die Frau atmete einige Male heftig durch. »Und ich weiß auch gar nicht, was ich getan hätte, wenn sie hier vor der Tür gestanden hätte. Ich hätte für nichts garantieren können, das sage ich Ihnen.«
»Das tut weh, nicht wahr?«, fragte Svenja.
Ulrike Wagner starrte in den Garten, begann zu weinen und nickte. In ihrem Gesicht zeigte sich vollkommene Hilflosigkeit. Dann griff sie wieder zu der Schnapsflasche.
»Und Sie können sich nicht vorstellen, womit Ihre Tochter so viel Geld verdient haben könnte?«, fragte Müller.
»Nein. Kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Sie hat ja nichts gelernt, sie hat ja immer alles gleich wieder hingeschmissen. Sie hat oben in ihrem Bett gelegen und Hasch gequalmt, wie unsereiner seine Zigaretten raucht. Und alles ging schief. Sie hat eine Lehre bei einem Friseur angefangen und nach vier Wochen schon wieder hingeschmissen. Irgendwann kommt ihr Meister hier ins Haus und fragt mich: Wieso
Weitere Kostenlose Bücher