Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
diskutieren«, sagte sie. »Wo hast du die zwei Stunden gestanden und gewartet? Wo genau?«
»Da hinten, ungefähr hundert Meter weiter, in der Gegenrichtung.«
»Und er ging rein, kam dann wieder raus, ging das Grundstück auf dem Gehweg ab, dann rief er dir zu, er käme bald zurück, und verschwand auf dem Grundstück. Ist das richtig so?«
»Ja«, sagte der Junge. »So war es.« Dann drehte er seinen Kopf zu Svenja und fragte: »Was soll ich tun, wenn du auch nicht mehr herauskommst? Ich meine, irgendwer muss doch wissen, was da passiert ist, dass da Leute verschwinden.«
»Das Einfachste ist, du parkst genau hier vor dem Tor und bleibst in Rufnähe. Oder hast du Leute, die uns jetzt helfen können?«
»Habe ich nicht«, sagte er.
»Okay. Ich gebe dir das Geld, damit du nicht umsonst hier herumstehst.« Sie reichte ihm einen Fünfzigeuroschein. »Ich lasse meine Tasche bei dir und gehe rein und schaue nach. Du machst gar nichts, du wartest einfach, bis ich wieder auftauche. Wenn jemand kommt und dich fragt, warum du hier stehst, dann sag einfach, du machst Pause. Und du parkst hier, damit du in das Grundstück bis zum Haus reinsehen kannst. Es wird nicht lange dauern, nehme ich an.«
»Okay«, sagte er. »Dann warte ich. Und was mache ich mit deiner Tasche, wenn du nicht mehr rauskommst?«
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte sie.
»Achtzehn.«
»Niemals.«
»Siebzehn.«
»Sagen wir sechzehn«, stellte sie fest. »Ich muss jetzt los. Bleib hier stehen. Hier kannst du mich sehen, bis ich am Haus bin.« Sie stieg aus und ging um den Wagen herum. Dann beugte sie sich zu dem Jungen hinunter und sagte: »Okay, hier ist noch etwas: Wenn ich nicht wiederkomme, dann fährst du zum Hotel und wartest auf einen Mann namens Thomas Dehner. Dem sagst du, was passiert ist. Alles. Aber nur Thomas Dehner. Kannst du das?«
»Ja.« Der Junge nickte. Er war sehr blass.
»Wiederhole den Namen.«
»Thomasch Diehnä.«
Svenja ging los, und während der ersten Schritte lockerte sie sich, bewegte rollend die Schultern und bemühte sich um einen tiefen, gleichmäßigen Atem. Dann begann sie zu laufen, und sie war nicht gewillt, sich aufhalten zu lassen.
Es war sehr still in dem großen Haus.
Sie stand mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen im Erdgeschoss in dem großen, leeren Raum für Empfänge und bewegte sich nicht. Sie horchte in das Haus hinein, und sie hörte nichts. Irgendwo, weit entfernt, bellte ein Hund, die Sirene eines Polizeifahrzeugs war kurz zu hören, dann nur ein gleichmäßiges, in Wellen anrollendes Rauschen: die Stadt.
Sie bewegte sich auf der Treppe in das Obergeschoss, lugte schnell um Ecken, entschloss sich dann, die Waffe zu ziehen und sie vor sich zu halten, um sofort reagieren zu können. Sie sah nichts, was ihre Aufmerksamkeit erregte, hörte nichts, was sie beunruhigte.
Dann zurück ins Erdgeschoss und weiter hinunter auf die Kellerebene. Sie hielt inne, lauschte, hörte nichts.
Dann war in der riesigen Küche plötzlich eine fette Ratte vor ihr und bewegte sich laut raschelnd mit einem großen Fetzen Papier. Ratten waren gut, sie waren aufmerksamer als Hunde, Ratten waren das sichere Zeichen für die Abwesenheit von Menschen. Meistens.
Sie warf einen Blick in die Kühlräume, dann in die Zimmerchen der Küchenmannschaft.
Dann lauschte sie wieder.
Sie dachte daran, dass Müller hier herumgelaufen war, und sie fragte sich, ob sie ihn zufällig in ihre Gewalt gebracht hatten oder ob es eine gezielte Aktion war. Wahrscheinlich gezielt, denn sie wollten ausgeflogen werden. Also hatten sie fest damit gerechnet, dass er auftauchen würde. Er oder irgendein anderer.
Wir funktionieren wie ein Schweizer Uhrwerk, wir kommen immer, dachte sie leicht zynisch.
In einem winzigen, vollkommen leeren Raum lag ein altes rotes Kissen, aus dem die Kunststofffüllung quoll. Daneben stand eine Flasche Rotwein, halb voll. Wieso das? MAROC stand darauf. An der Decke eine Fünfzehnwattfunzel, die brannte.
Bettler? Penner? Leichenfledderer?
Sie wurde langsamer in ihren Bewegungen, und sie entsicherte die Waffe.
Der nächste Raum war größer. Auch eine trübe Funzel an der Decke. Ein Regal mit einer kleinen doppelten Kochplatte und ein einfacher Topf. Beides kalt.
In der Wand gegenüber eine halb geöffnete, große Metalltür. Dahinter ein gewaltiger Sicherungskasten, deutsches Fabrikat.
Einer der Stromzähler war in Betrieb, drehte sich unendlich langsam. Aber sie hatte nirgendwo Strom entdeckt,
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