Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
sie sind alle schwer bewaffnet. Denn für jeden von ihnen geht es auch um Leben oder Tod. Hier in deinem Land könnten sie nicht weiterleben. Was glaubst du, was passiert, wenn sie hier auf dem Flughafen erwischt werden?«
»Sie werden erschossen«, sagte der Junge trocken. »Du kannst darauf wetten, dass sie sofort erschossen werden.«
»Du hast es kapiert«, sagte Svenja. »Und mitten unter ihnen ist mein Freund. Sie sind alle so nervös, dass sie bestimmt beim geringsten Anlass zu schießen beginnen. Und wenn es kritisch wird, nehmen sie auf meinen Freund keine Rücksicht, dann werden sie vielleicht auch auf ihn schießen, oder er wird von einer verirrten Kugel getroffen. Und der hat nichts, nicht einmal ein Taschenmesser. Er stirbt einfach. Es kommt noch etwas hinzu. Onkel Tobruk kann das Flugzeug nicht fliegen. Das kann nur ein Chefpilot zusammen mit dem Kopiloten. Und es ist die große Frage, ob ein Chefpilot so etwas freiwillig tut. Jeder, der an so einer Mission beteiligt ist, muss mit seinem Tod rechnen. Und natürlich muss der Flughafen in Beirut zustimmen, wenn dieser Flieger dort landen will. Es ist also möglich, dass der Pilot gar keine Landeerlaubnis bekommt. Aber wenn er sie tatsächlich erhält, ist immer noch nicht sicher, ob Onkel Tobruk heil in Beirut ankommt. Denn da stehen jede Menge Sicherheitsleute und warten auf ihn. Die sind bewaffnet und genauso nervös wie Onkel Tobruk und seine Leute. Es gibt also jede Menge Unsicherheiten. Ich denke, das kannst du verstehen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass so eine Aktion jemals ohne Tote abgelaufen ist.« Svenja seufzte tief. »Es ist so, dass ich meinen guten Freund so schnell wie möglich aus der Hand von Tobruk befreien muss. Ich will ihn lebend, verstehst du? Und ich will ihn noch heute Nacht wiederhaben.«
»Ja klar, das kann ich verstehen.« Er schaute Svenja einen Moment lang intensiv in die Augen, als ginge ihm langsam auf, wie riskant das ganze Unternehmen war.
Dann fragte er: »Ist dein Freund dein Mann?«
»Ja«, sagte Svenja.
»Dann verstehe ich das. Und wie geht es jetzt weiter? Ich meine, wir müssen ja irgendetwas tun.«
Svenja lachte kurz auf. Als er sie verwirrt ansah, erklärte sie: »Natürlich tun wir zwei etwas. Am besten wäre es, wenn wir genau in Erfahrung bringen könnten, wie das in den vergangenen Jahren war. Wie lief das auf diesem Flughafen ab, wenn Gaddafi irgendwo hinflog? Das müssten wir genau wissen.«
»Meine Mutter weiß so etwas«, antwortete er sofort.
»Woher weiß sie so etwas?«
»Sie liebt Gaddafi«, antwortete der Junge, »immer schon.«
»Dann wird sie uns nicht helfen«, stellte Svenja fest. »Und wir haben keine Zeit.«
»Sie wird uns helfen«, widersprach der Junge. »Sie liebt mich nämlich mehr als Gaddafi.«
»Wir haben keine Zeit, deine Mutter zu besuchen«, sagte Svenja. »Wir müssen gleich handeln, und du musst ständig bereit sein, mich zu fahren. Also bitte zum Flughafen.«
»Das kann schiefgehen«, sagte der Junge. »Gegen Morgen kommen NATO -Flieger von den Engländern und den Franzosen und bombardieren.«
»Aber nicht den Flughafen von Tripolis, den brauchen sie nämlich noch. Jede Partei braucht ihn. Die Leute von Gaddafi brauchen ihn, weil sie immer noch die Hoffnung haben, ausfliegen zu können. Seine Gegner brauchen ihn, weil die Hilfsflüge hierher lebensnotwendig sind, damit ihr genug zu essen habt und die Krankenhäuser versorgt werden können. Und die NATO braucht ihn, weil die Hilfsflüge organisiert werden müssen und weil dauernd Diplomaten ein- und ausfliegen. Und dazwischen, in all dem Durcheinander, wartet Onkel Tobruk irgendwo auf die Möglichkeit, in meinen Flieger einzusteigen und abzuhauen. Und ich will nicht, dass ihm das gelingt, damit ich meinen Mann wiederkriege. Und zwischen uns und Onkel Tobruk und seinen Leuten liegt die ganze Nacht.« Svenja lächelte den Jungen an. »Also, auf zum Flughafen.«
»Okay.«
Die Fahrt verlief stockend, weil die ganze Stadt auf den Beinen zu sein schien. Sie sprachen nicht miteinander. Erst als sie auf dem Zubringer zum Flughafen waren, entschied Svenja, einen Parkplatz anzufahren, denn auf den ersten Blick war zu sehen, dass die Rebellen das Kommando führten. Selbstverständlich hatten sie vor dem Haupteingang zwei Pick-ups mit jeweils einer Schnellfeuerkanone platziert, deren Besatzungen übermüdet schienen und wohl nicht wirklich mit einem dramatischen Zwischenfall rechneten.
»Wenn du willst, kannst du
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