Die große Flut
Liebesdienst dem Brauch gemäß den Söhnen des Verstorbenen Vorbehalten sei. Dennys dürfe jedoch bei den Frauen bleiben, denn er gehöre ja nun auch gleichsam zur Familie.
Die Sonne glitt unter den Horizont. Der Himmel wurde purpurrot. Aus dem letzten Tageslicht tauchte der blasse Mond empor. Der erste Stern zitterte herauf, andere folgten, stimmten in den Gesang des Mondes ein, sangen für Lamech, dem eine Vielzahl an Jahren gegeben war, dessen Leben sich erfüllt hatte, der zuletzt doch noch mit seinem Sohn Frieden geschlossen hatte.
Alle weinten und klagten laut. Mahlah stand ein wenig abseits, das Kind im Arm. Ugiel könne leider nicht kommen, sagte sie.
Wie ein Echo erwiderte Noah, daß auch Sandy leider nicht kommen könnte.
»Warum?« fragte Mahlah. Keiner antwortete ihr.
O-holi-bamah sagte so leise, daß nur Japheth, Dennys und Yalith es hörten: »Jetzt wird sie Ugiel fragen, wo Sandy geblieben ist.«
Yalith flüsterte: »Und weiß er das?«
O-holi-bamah schüttelte den Kopf. »Wenn er es weiß, wird er es ihr nicht verraten. Aber ich fürchte, die Nephilim haben mit der Sache zu tun.«
Japheth runzelte besorgt die Stirn. »Hoffentlich nicht.«
Dennys starrte ihn an, und seine Angst wuchs.
Das Grab war ausgehoben.
Als die Söhne und Enkel den Leichnam bestatteten, ahnte Dennys irgendwie, daß neue Trauergäste anwesend waren, drehte sich um und sah die goldenen Seraphim im Halbkreis stehen. Und wieder hörte er ganz deutlich den Gesang des Mondes und der Sterne.
Aariel rief: »Yalith!«
Auch sie wandte sich um, erschrak.
Aariel hob die Arme und Flügel zum Himmel, und der Gesang wurde lauter. »Singe für Großvater Lamech!«
Yalith gehorchte. Ihr Lied war ohne Worte, schmerzlich liebevoll. Sie sang mit dem Mond und den Sternen, und die Seraphim stimmten ein, in vollem Orgelklang, in einer einzigen großen Harmonie.
Japheth nahm O-holi-bamah an den Händen, zog sie hinaus auf die freie Sandfläche, und sie begannen im Rhythmus des Gesanges zu tanzen. Ham und Anah schlossen sich ihnen an, und zu viert woben sie unsichtbare Muster aus Bewegungen, faßten einander, lösten sich wieder, drehten sich, sprangen. Sem und Elisheba folgten, dann Noah und Matred, dann die älteren Töchter und deren Männer, und zuletzt zog Yalith auch Dennys in den Kreis, in das Kaleidoskop sich windender Körper, in das Halleluja aus Freude und Schmerz und namenlosem Staunen. Bis Dennys Sandy vergaß, bis er vergaß, daß Großvater Lamech nie wieder das Zelt betreten würde, bis er sein Heimweh vergaß. Der Purpurschein am Horizont verblaßte in fahles Rosa, in zartes Blau, in nächtliches Dunkel; und immer zahlreicher und heller wurden die Sterne; und die Harmonien der Sphären und der Tanz der Galaxien verschmolzen strahlend ineinander.
Zögernd lösten sich die Trauernden aus ihrem Wiegen und Schreiten, hielten inne. Dennys öffnete die Augen. Die Seraphim waren verschwunden. Yalith stand neben ihm, das Gesicht tränenüberströmt. Noah und seine Söhne traten die Erde über Großvater Lamechs Grab fest.
Sandy blinzelte, konnte nichts sehen. Seine Glieder waren gefühllos. Der Stich hatte ihn vorübergehend gelähmt. Allmählich kehrte mit leichtem Prickeln Leben in Arme und
Beine zurück. Er kannte die Pfeile, die Noahs Familie bei der Jagd verwendete. Einen solchen Pfeil hatte offenbar jemand auf ihn abgeschossen.
Warum?
Es stank nach Ziegen, Urin und Schweiß. Sandys Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Jetzt nahm er wahr, daß er sich in einem kleinen Zelt befand. Der Rauchabzug in der Decke war geschlossen, ließ kein Licht herein. Das Zelt war klein, viel kleiner als das von Noah oder Großvater Lamech.
Als sich Sandy bewegen wollte, bemerkte er, daß er an Armen und Beinen mit Riemen gefesselt war. Er zappelte so lange, bis er sich, den Rücken an die Zeltwand gestützt, aufgesetzt hatte. Er versuchte, die Fesseln durchzubeißen. Sie stanken, daß es ihm den Magen hob. Und die Riemen waren so oft und so fest um seine Handgelenke gewunden, daß er keine Chance hatte, sie zu lockern oder den Knoten mit den Zähnen zu öffnen.
Er gab seine sinnlosen Versuche auf und bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen.
Man hatte ihn auf dem Weg von Noahs zu Lamechs Zelt entführt. Warum? Wem sollte er als Geisel nützen? Niemandem war damit gedient, Noah oder Lamech zu erpressen.
Warum also?
Sein Magen knurrte. Wie lange hatte der vergiftete Pfeil ihn eingeschläfert? Wie spät war es?
Es war so
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