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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schoemel
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Ihnen. Wie geht es Ihnen? Wie läuft es mit unserem Projekt? Ich würde mich sehr freuen, von Ihnen zu hören. Viele liebe Grüße, Ihre Adriana Fallhorn.«
    Dieser nichtssagende und köstliche Text förderte die ganze Dumpfheit des Zustands zutage, in dem Glabrecht sich aufhielt. Plötzlich wurde er sich der Stille im Raum bewusst, die von den artverwandten Geräuschen des PC-Lüfters und des Tinnitus verstärkt wurde. Immer wieder und ganz verblödet las er die Zeilen, so, als bestände die Möglichkeit, durch fleißiges Lesen Deckschichten über einem verborgenen Untertext abzutragen und weitere, bislang übersehene glückbringende Wörter zum Vorschein zu bringen. War die Botschaft interpretationsbedürftig? Versteckten sich irgendwo verschlüsselte Botschaften? Und, falls ja: Welche?
    Der Tinnitus wurde bald durch ein gehirnweites pelziges Rauschen ergänzt, wie es früher entstanden war, wenn Glabrecht zu laute Musik gehört hatte. Gleichzeitig schien der ganze Körper zu schrumpfen und nur noch aus diesem entleerten Geist zu bestehen, der die Wörter auf dem Bildschirm in sich einsaugte, ohne je seinen Durst stillen zu können. Glabrecht spürte seine Beine nicht mehr, nicht die Arme, nichts.
    Dieser Zustand war gelegentlich auch dann zu registrieren, wenn Glabrecht sich stundenlang im Internet aufgehalten hatte und irgendwann merkte, wie er verzweifelt nach neuen dringenden Informationsbedürfnissen suchte, die er eventuell befriedigen könnte.
    Wie war das Wetter in Neuguinea? Welches Land der Erde hatte die höchste Selbstmordrate, und welche Gründe dafür wurden genannt? Wie viele Tote gab es im Korea-Krieg? Gab es neue Erkenntnisse über die weibliche Ejakulation? Wo lag eigentlich die Walachei? Gab es Walachen? Wie viel Prozent aller amerikanischen Paare betrieben regelmäßig Analverkehr? Und, in diesem Zusammenhang, ein ganz wichtiges Forschungsfeld: In welchen Chatrooms wurden Erlebnisse von Darmspiegelungen ausgetauscht? – Auch Google-Earth konnte viele schmerzhafte Wissenslücken aufreißen und gnadenreich füllen. Wie, zum Beispiel, sahen Oslo und der Holmenkollen von oben, aus dem Weltall betrachtet, aus? Konnte man die Veranda des Holmenkollen Park Hotel Rica erkennen?
    In diesen Situationen hatte Glabrecht häufig Angst davor, den Rechner auszuschalten, das Entsetzen der Informations- und Bilderlosigkeit zu erleben und ins Bett gehen zu müssen, zumal er das Vorhandensein eines Körpers, der sich bewegte, der aufstehen und gehen konnte, ganz und gar nicht mehr spürte.
    Jetzt, an Adrianas kargen Zeilen saugend, war Glabrecht innerhalb von Sekunden von dieser Aushöhlung seines Körpers befallen worden. Hatte es das nicht alles schon einmal gegeben? War dieser Text, diese Mail, nicht der Anfang eines immer gleichen Stückes, dessen Ausgang Glabrecht auswendig wusste?
    Und war es nicht völlig klar, wie sinn- und wirkungslos genau diese Fragen waren? Sie und die zu findenden Antworten würden nichts klären und nichts aufhalten.
    Glabrecht streckte seinen Rücken, klickte auf »Antworten« und schrieb mit großer Geschwindigkeit zehnfingrig seinen Text. »Liebe Adriana, das freut mich, dass Sie mir geschrieben haben. Ich hatte mich schon sehr darüber geärgert, dass ich nicht meinerseits nach Ihrer E-Mail-Adresse gefragt hatte. – Heute Abend hatte ich ein Fund-Raising-Dinner. Eigentlich war es schrecklich – allerdings sind Millionen Sponsorengelder für die Maritime Oper zugesagt worden. Und Sie, was tun Sie gerade? Warum sind Sie nicht im Nachtleben unterwegs? Herzliche Grüße, Ihr Georg Glabrecht.«
    War das zu nüchtern, zu uninspiriert? Zeigte es zu viel Interesse? Oder zu wenig? War die Frage nach dem Nachtleben indiskret, weil sie ahnen ließ, dass Glabrecht in Wahrheit wissen wollte, ob es tatsächlich keinen Mann gab in Adrianas Leben? War er charmant genug? Durfte er überhaupt charmant sein, obwohl er zwanzig Jahre älter war? Klang es nicht ältlich, wenn er von »Nachtleben« sprach?
    Einige Male überprüfte Glabrecht die Nachricht, ehe er sie unverändert abschickte. »Klick!« Sie war ausreichend charmant! Schlagartig ging es ihm jetzt besser. Sein Körperverlust war völlig repariert, ja das Gegenteil hatte sich eingestellt. Insgesamt hatte er sogar an Volumen zugenommen. Er spürte eine angenehme und als gelungen zu bezeichnende Koexistenz seines Leibes mit der restlichen Welt.
    Fünf Tage hindurch wartete er auf eine neue Mail von ihr. Seine Stimmung wurde finster. Was

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