Die große Verschwendung
nehmend, nach oben in sein Büro.
Er schloss die Tür, weckte die Vorsehung aus ihrem Energiesparschlaf und befragte Outlook , ob neue Nachrichten vorlägen. Es dauerte eine Weile, bis der Server etwas anlieferte. Fast völlig still war es da oben in seinem Zimmer, und Glabrecht hörte deswegen, wie laut seine Ohrgeräusche inzwischen geworden waren, lauter jedenfalls als der Regen draußen. Zweifellos war er viel betrunkener als angenommen. Er ließ den lang zurückgedrängten Furz fahren, um ein akustisches Lebenszeichen von sich selbst und von der gesamten Realität zu haben. Es klang verzweifelt, wie ein von der Mutter verlassenes Kalb.
Endlich wurde der Eingang einer Mail von Adriana angezeigt, die sie vor drei Stunden abgeschickt hatte. Einen Frühherbstspaziergang auf dem Holmenkollen habe sie gemacht und ein Foto des Waldes angehängt.
»Ich hoffe, du hältst durch heute Abend. Ich denke an dich. Vielleicht hilft dir auch das Foto.«
Glabrecht schaute sich kurz das Abbild der sonnenhellen Baumkronen an. Es hatte einen Fehler: Es zeigte Adriana nicht. Dann antwortete er rasch, schrieb vom Regen, von der Langeweile, davon, dass er morgen ausführlicher erzählen würde.
Daraufhin betrat er sein Bad, ignorierte den Spiegel, beugte die Knie vor der Kloschüssel, um die Fallhöhe des Urins zu verringern, pisste mit erfreulich dickem und druckstarkem Strahl, den er der täglichen Kapsel mit Sägepalmenextrakt zu verdanken hatte – oder auch nicht. Vor dem geöffneten Medikamentenschrank dachte er über die geeignete Katerprophylaxe nach: Zwei Aspirin -Brausetabletten kamen zusammen mit einem Esslöffel Fruktose in ein großen Glas Wasser. Er rührte so lange, bis sich alles aufgelöst hatte, und spülte die Artischockenextraktkapseln runter, die er sich inzwischen auf die Zunge gelegt hatte. Alles zusammen würde hoffentlich das Schlimmste verhindern.
Vielleicht hatte Adriana bereits erneut geschrieben? Glabrecht musste auf jeden Fall noch einmal nachschauen, ehe er wieder nach unten ging. Die Vorsehung hatte leider keine neue Nachricht im Angebot. Nichts!
Unten hatte man sich während seiner Abwesenheit mit spürbarer Erleichterung einfacheren Themen zugewandt. Alle redeten durcheinander, aber Glabrecht hörte nicht hin, war leichtherzig und innerlich von etwas beleuchtet, das aus seiner Lebenszukunft kam.
Die kleine Szene, die Marianne ihm später – es war lange nach Mitternacht – bereitete, drang nicht tief in ihn ein. Ihre Vorwürfe, der Satz, sie habe sich wieder einmal für ihn geschämt, er sei vollkommen krank – das alles verschaffte ihm sogar ein angenehmes Gefühl von Schicksalhaftigkeit, einen innerlichen Glanz, den er mit ins Bett nahm, nachdem er selbstverständlich, leider ergebnislos, noch einmal nach neuen E-Mails geschaut hatte.
2.
Er kannte bereits viele Einzelheiten aus Adrianas Leben, ihre gescheiterte Beziehung mit einem Anwalt, der für eine der ganz großen amerikanischen Investmentgesellschaften im Private Equity-Bereich arbeitete. Der habe sie niemals wirklich »als Person« erkannt, hatte sie geschrieben.
Diesen Satz hatte Glabrecht schon häufiger aus dem Mund von Frauen gehört, für die eine Beziehung zu einem Mann zu Ende gegangen war. Als fiele solch ein entscheidender Mangel wie der beklagte nicht von Beginn an auf! Andererseits fiel Glabrecht ja dieser unangenehme Satz von Adriana durchaus sofort und sehr deutlich auf, aber nichts wurde dadurch beschädigt.
War es mit ihm und Marianne nicht ebenso gewesen? Hatte er nicht schon sehr früh gewisse Blicke von ihr registriert, diese Streifblicke voller Verachtung, ja sogar Hass, die vor allem seiner Spottlust und seiner Weltverzweiflung galten? Und er? War ihm ihre grässliche Normalität tatsächlich erst nach Jahren aufgefallen? Natürlich nicht! All dies war wohl während der beiderseitigen Feierlichkeiten der verliebten Paarbildung, während der Zeit der gemeinsamen sexuellen Ausschweifungen immer wieder weggeblasen worden von neuen Stürmen der Begeisterung darüber, dass etwas Dringliches verwirklicht worden war.
So war es wohl auch bei Adriana gewesen. Allzu viele Kapillaren ihres Begehrens dürften zu diesem Anwalt hingeführt haben – und höchstwahrscheinlich zu dem, was er an Status, Fünf-Sterne Hotels und herrlich großzügigen Gesten, die seinen gepflegten Händen in spielerischer Leichtigkeit entstiegen, mit sich gebracht hatte.
Aber Himmel! Man konnte doch diese Gefühlsdinge sowieso nicht
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