Die große Verschwendung
zu sehen, was da für ihn bestimmt sein sollte, was ihm angeblich zur Verfügung stand. Er hatte die Fotos nicht kommentiert, und Adriana hatte nicht gefragt, ob sie ihm gefallen hatten.
3.
Die Rezeptionistin des Flüela teilte Glabrecht mit, Herr Dr. Mavenkurt bitte ihn und Frau Fallhorn für zwanzig Uhr zum Essen. Mavenkurt war noch nicht anwesend, Adriana hatte mitgeteilt, sie komme gegen achtzehn Uhr. Glabrecht schickte eine SMS zurück: Er warte in seinem Zimmer auf sie.
Gegen viertel vor sechs erhob sich Glabrecht von dem Stuhl, auf dem er, zwischen Angst und Vorfreude gefangen, über eine Stunde lang fast regungslos gesessen hatte, ging ins Badezimmer, schaute noch einmal, zur Endkontrolle, in den ziemlich gütigen Spiegel, mit zusammengekniffenen Augen, um den Rasierblick zu vermeiden, und wurde plötzlich sehr aufgeregt. Er wusch sich die leicht verschwitzten Hände, rieb sie mit dem Handtuch trocken. Dann wiederholte er den Vorgang.
Als er das Bad verließ, klopfte es an der Zimmertür. Glabrecht öffnete. »Ich bin etwas zu früh«, sagte Adriana.
Und noch ehe Glabrecht überhaupt prüfen konnte, wie er sich denn selbst fühlte in dieser ersten Sekunde, in der alles neu begann, in der sie beide sich auf nichts mehr berufen konnten, was sie einander geschrieben und erzählt hatten, auf keinen der vielen tausend Sätze, auf keines der Telefonate, auf nichts – noch vor dieser Selbstprüfung fragte er sich, ob Adriana denn genau so fühlte wie er selbst. Auf diese Weise entstand eine merkwürdige gedankliche Rückkopplung. Beide Fragen wollten und mussten sofort beantwortet werden, jede vor der jeweils anderen, und dieses unlösbare Problem ließ Glabrecht, seine Augen und seine Mimik wohl für lange zwei, drei Sekunden vollkommen erstarren.
»Da bin ich«, sagte Adriana noch einmal, und sie lächelte etwas mühsam.
Sie trug einen knapp geschnittenen Rock aus hellem Tweed und einen schwarzen Pullover mit weitem Rollkragen, mittelhohe Absätze.
Glabrecht sagte: »Wie ich mich freue!«, und erst danach konnte er mit dem Betrachten und den hinhuschenden Wahrnehmungen beginnen. Er begann damit in einer Weise, als nähme er an einer Steigung langsam und mit Mühen Fahrt auf. Zum Beispiel: dass sie rosig aussah, viel schöner war, als er sich das die ganze Zeit über zugegeben hatte. Und warum hatte er versucht, ihre Schönheit kleiner zu fühlen, als sie tatsächlich war?
Und, wie sie ihn gerade anschaute, gab es eine Enttäuschung in ihrem Blick? Gab es eine Freude, ein Hinschmelzen? Nein, da war gar nicht viel zu sehen. Aber wie sollte das auch möglich sein?
Sie umarmten einander. Zum ersten Mal überhaupt spürte Glabrecht ihre Brüste, die er schon vor einer Woche nackt gesehen hatte. In Wahrheit waren sie aber bis zu diesem Moment hier in der geöffneten Tür nicht vorhanden gewesen.
Wie in Eile betrat Adriana darauf das Zimmer. Kaum, dass Glabrecht die Tür geschlossen hatte, fiel sie ihm fast gewaltsam um den Hals, drückte ihn, küsste ihn, was ungeschickt ausfiel, ungeübt. Die Zähne prallten etwas aufeinander. Man kannte sich wenig.
Glabrecht hätte darauf wetten können, dass die Überhast, mit der Adriana vorging, einer Überlegung folgte, die sie angestellt hatte: Es durfte unter keinen Umständen eine Zeit vergehen, in der die Fremdheit sich hätte einnisten können.
»Ich habe dich so vermisst!«, sagte sie, indem sie sein Gesicht fest in beiden Händen hielt und dicht vor dem eigenen fixierte. Ihr Blick flackerte zwischen Glabrechts linkem und seinem rechten Auge hin und her. »Ja!«
Sie sagte das, als bitte sie jemanden um Hilfe.
»Du riechst gut«, sagte Glabrecht und atmete demonstrativ durch die Nase ein.
»Du auch«, sagte Adriana.
Glabrecht ging zum Champagnerkühler, entnahm die Flasche, tupfte das Wasser ab, knispelte die Metallfolie weg, löste den Draht, drehte langsam den Korken heraus und füllte die Gläser.
In wenigen Minuten würden sie hinunter fahren, zum Dinner mit Mavenkurt. Draußen war es längst völlig dunkel geworden. Dennoch wurde das Hotelzimmer von lediglich einer einzigen schwachen Wandlampe erhellt. Im Dämmerlicht hockte Glabrecht auf der Kante des Tisches, an dem er so lange gewartet hatte. Adriana stand zwischen seinen gespreizten Oberschenkeln. Sie hatte den Rücken zu Glabrecht gewandt. Vielleicht musste sie sich ein wenig ausruhen von der Situation? Seine Arme waren locker um ihre Taille gelegt. Schon lange war die Wärme ihres Körpers zu ihm
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