Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
bedeuten hat. Aber ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.
Ich drehe mich um. Polly steht auf und sieht mich an, sie wirkt müde und unsicher.
»Was hast du vor? Rettest du uns oder nicht?«
Ich blicke sie und ihre Katze an, die von Hustenkrämpfen geschüttelt nach Luft ringt. Ich habe mein Wort gegeben.
Ohne lange nachzudenken, greife ich nach dem Spielbrett und nehme ein J, doch noch bevor ich das A legen kann, klatscht Polly schon aufgeregt in die Hände und schaufelt alle Buchstabenplättchen zurück in den Beutel.
»Ein Abenteuer! Ich liebe Abenteuer. Gut, wir nehmen das Spiel mit, falls du irgendwann mal was zu uns Menschen sagen willst. Und ich hole die Taschenlampe. Wir werden nicht lange fort sein, oder? Solange wir zum Abendessen zurück sind, haben meine Eltern sicher nichts dagegen, wenn …«
Und weg ist sie. Ich höre, wie sie eine Treppe hinaufpoltert, ohne ihren Redeschwall auch nur zum Luftholen zu unterbrechen.
Vom Lärm ist auch Sidney aufgewacht. Sie steht auf, ihr geschwungener Schatten fällt auf die Tischplatte.
* Ich denke nicht, dass ich sterben möchte, mein Lieber – es harren meiner noch so viele Trophäen .*
Ich streiche über ihren Rücken und sie zuckt zusammen.
* Du wirst auf einem Hirsch reiten müssen *, sage ich.
* Ist er fürchterlich ungepflegt und roh und verwildert? *
Ich nicke.
* Nun, das ist wenigstens ein kleiner Trost, nicht wahr? *, sagt sie und schwingt ihren Schwanz elegant durch die Luft.
Ich nehme sie in die Arme und verlasse die Küche. Noch im Türrahmen rennt mich Polly beinahe über den Haufen. Von ihrer Schulter hängt ein ausgebeulter Rucksack. Inzwischen ist sie hellwach, ihre Wangen sind gerötet. Sie öffnet den Rucksack und zeigt mir den Inhalt.
»Ich glaube, ich habe alles beisammen. Der komplette Buchstabensatz, eine Portion Katzensnacks, die machen im Notfall auch uns satt. Das Fernglas und die Lupe, falls wir irgendetwas genauer untersuchen müssen.« Ich spüre, wie der General in meiner Tasche zappelt. »Und natürlich mein Notizbuch. Vielleicht entdecken wir sogar ein paar neue essbare Pflanzen! Ich habe eine Nachricht für Ma und Pa im Schlafzimmer hinterlassen – meinst du, wir werden sehr lange weg sein –«
Plötzlich bricht sie mitten im Satz ab. Da höre ich es auch.
Ein Geräusch, das ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört habe. Ein Auto, das mit laufendem Motor auf der gepflasterten Einfahrt hält.
Kapitel 20
Starr vor Schreck stehen Polly und ich im Türrahmen zur Küche und blicken uns an. Wir lauschen auf das gleichmäßige Brummen des Motors, das zu uns heraufdringt, und wagen kaum zu atmen.
Plötzlich rennt Polly den Flur entlang. Sidney im Arm und den General in der Tasche, folge ich ihr, so schnell ich kann, durch das Labyrinth von Treppenhäusern und Gängen. Polly balanciert auf einem hohen Lehnstuhl am anderen Ende eines langen gefliesten Korridors. Mit einem großen Schlüsselbund macht sie sich gerade an den ungefähr fünfzehn Schlössern der Tür zu schaffen.
»Ich hätte vielleicht ein paar Decken holen sollen. Nach der anstrengenden Reise sind sie bestimmt total durchgefroren. Aber sie haben ja Formula dabei, also gibt es heute Abend wahrscheinlich ein richtiges Festmahl.«
Ein Festmahl aus pinkfarbenem Hühnchen-mit-Pommes-Brei.
Ich frage mich, was ihre Eltern wohl von dem stummen und vor Dreck starrenden Jungen halten werden, der zusammen mit einem Kakerlak in ihr Haus eingebrochen ist.
Polly löst eine Kette mit Vorhängeschloss, schiebt einen Holzriegel zurück und versucht, die Tür zu öffnen.
»Steh nicht in der Gegend rum, Kidnapper! Hilf mir!«
Mit vereinten Kräften öffnen wir die Tür, die über den Steinboden knirscht.
Einen Wortschwall ausstoßend rauscht Polly ins Freie. Der Himmel ist wolkenverhangen und grau, aber kein Regentropfen fällt.
Auf der ersten Treppenstufe bleibt Polly wie angewurzelt stehen. Ihr Blick fällt auf das Fahrzeug, das mit leise surrendem Motor im Hof steht. Aus der Nähe betrachtet ist es weit weniger eindrucksvoll – die verbeulten Seiten sind völlig zerkratzt, der rostige Auspuff spuckt mit lautem Röhren eine schwarze Wolke aus. Aber es gibt keinen Zweifel: die sechs mächtigen, schlammverkrusteten Reifen, die purpurrot lackierte Karosserie und über allem der gelbe Kreis mit dem Buchstaben F – vor mir steht das Fahrzeug, das der Hirsch in der Großen Weite gesehen hat.
»Vielleicht haben sie Ma und Pa ein Stück mitgenommen?«, überlegt
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