Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Pinzette hoch und legt den kleinen Erdklumpen in meine offene Handfläche. Erst da sehe ich, dass es gar kein Dreck ist, sondern eine halb zerquetschte Beere. Sie ist dunkel und verschmiert, aber es ist zweifellos eine der Beeren, die mir die Tauben gegeben haben.
Ich begreife immer noch nichts.
»Distelbeeren«, sagt Polly und schiebt mir das aufgeschlagene Buch hin. Auf der Seite sind Beeren zu sehen – und zwar genau die, die ich gegessen habe. »Die Wälder hier sind voll davon. Ich habe diesen Fehler auch schon gemacht. Sie sind hübsch, aber ungenießbar.« Sie denkt kurz nach, dann fügt sie hinzu: »Für Menschen sind sie nicht nur ungenießbar, sondern giftig. Man stirbt zwar nicht daran, aber es reicht, um sich ziemlich elend zu fühlen.«
Allein vom Anblick des Gebräus habe ich einen galligen Geschmack im Mund, aber Polly lässt nicht locker. »Danach wird es dir besser gehen. Ein Tee aus Kohle und Leinsamen. Aber du musst ihn ganz austrinken, bis auf den letzten Tropfen.« Sie verschränkt die Arme. »Du hast die Rote Pest nicht. Vertrau mir.«
Der General beobachtet uns vom Fußboden aus. * Woher hätte ich wissen sollen, dass du sie nicht essen kannst? *, schnaubt er beleidigt.
Ich starre in die dampfende Tasse, schließe die Augen, halte mir die Nase zu und schlucke das Zeug. Es ist schwarz und klumpig, und nach jedem weiteren Schluck würde ich es am liebsten ausspucken, aber irgendwie kriege ich es doch bis auf den letzten Tropfen hinunter.
Ich schüttle mich, als könnte ich so den Geschmack loswerden, aber zu meinem Erstaunen beruhigt sich mein rebellierender Magen bereits.
»Es war reiner Zufall, dass ich die Beere entdeckt habe«, sagt Polly. »Es hätte genauso gut irgendein anderes Gewächs sein können. Die Wälder in der Umgebung sind voll von giftigen Sachen. Aber dass es nicht die Rote Pest ist, war von vorneherein klar.«
Ich begreife nicht, was sie meint. Polly bückt sich und zerrt Sidney unter dem Tisch hervor. Sie drückt die dünne, abgemagerte Katze mit den roten Augen an die Brust und schmiegt ihr Gesicht in das weiße Fell, bis es Sidney zu viel wird und sie sich unter lautem Protestmiauen aus Pollys Griff befreit.
* Verflixt noch mal, Junge! Ich bin schon krank genug, kannst du sie nicht dazu bringen, mit diesem Getue aufzuhören? *
Aber ich habe nur Ohren für das, was Polly sagt.
»Sieh sie dir an. Ich bin putzmunter und gesund, und das, obwohl sie schon seit zwei Wochen krank ist und ich sie jeden Tag im Arm halte.«
Ich sehe sie an, ohne sie richtig wahrzunehmen. Denn ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, über das Rauschen in meinen Ohren hinweg Pollys Worten zu lauschen.
»Facto belügt euch alle. Menschen können sich nicht mit dem Virus anstecken.«
Kapitel 19
Während ich noch mehr von dem Kohle-Tee trinke, der mit jedem Schluck ein bisschen besser schmeckt, erzählt Polly ihre Geschichte. Sidney hat sich auf dem Spielbrett ausgestreckt und döst, nur hin und wieder miaut sie oder hustet. Der General sitzt still auf meiner Schulter und lässt sich kein Wort entgehen.
»Ich war damals noch ziemlich klein, daher kann ich mich kaum mehr daran erinnern, wie alles angefangen hat«, sagt sie. »Aber als sie hier auf dem Land alle evakuiert und die Gegend zur Quarantäne-Zone erklärt haben, sind wir geblieben. Ma wollte das Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat, nicht einfach so verlassen – niemand wusste, was damit passieren würde.«
Mein Blick streift über die abgeblätterte Farbe an den Fensterrahmen und die schmuddelige Küche, und ich frage mich, ob das Haus in verlassenem Zustand wirklich schlechter dran gewesen wäre als jetzt.
»Zuerst haben wir uns nur aus der Vorratskammer ernährt und alles in Rationen aufgeteilt. Danach haben wir die Reste in den leeren Konservendosen eingeweicht und daraus Suppe gemacht. Irgendwann gab es dann Formula, aber wir bekamen nie etwas davon, wir hätten ja eigentlich längst nicht mehr hier sein sollen. Formula gibt es nur in den Städten.« Das hatte ich nicht gewusst. »Facto vernichtete das Gemüse und Getreide, angeblich, weil alles verseucht war. Pa meinte, wenn wir bleiben wollten, würden wir alles über Pflanzen lernen müssen.«
Sie wedelt mit dem ledernen Notizbuch vor meiner Nase herum.
»Wir hatten eine Menge alter Bücher in der Bibliothek. Zusammen sind wir sie Seite für Seite durchgegangen. Inzwischen weiß ich alles über unsere heimischen Pflanzen und sehe auf den ersten Blick, welche
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