Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
murmelt er leise vor sich hin: * Und so kamen sie zur Straße der Fische. Genau wie in dem Traum. Höchst bemerkenswert .* Dann fragt er mich: * Sag mir, Kester, wovor fürchtest du dich mehr?*
Ich verstehe seine Frage nicht.
* Sag mir, was du siehst .*
Ich sehe Nebelschwaden, die über einen breiten Fluss gezogen kommen, der, je länger ich darauf schaue, umso schneller zu fließen scheint. Eine Straße der Fische hat der Hirsch ihn genannt. Dabei gibt es längst keine Fische mehr. Der Fluss ist reißend. In einem Strudel aus Blättern und Gräsern werden ganze Äste mitgespült, sie werden über Felsen geschleudert, die aus dem Wasser ragen wie das kleinste Gebirge der Welt.
* Und jetzt schau noch einmal zurück. Was siehst du dort?* , fragt der Hirsch leise.
Ich drehe mich um und sehe, wie Skuldiss zwischen den dunklen Bäumen auf uns zugehumpelt kommt; grinsend richtet er seine Krücke genau auf mich und den Hirsch. Hinter ihm stehen die zwei Keuler vornübergebeugt und ringen nach Luft. Captain Skuldiss hingegen ist die Ruhe selbst. »Kinders, bitte, Schluss mit diesem Unsinn, lasst uns mit diesem albernen Wettlauf aufhören.« Er fuchtelt mit seiner Krücke. »Übergebt uns die Tiere.«
* Und wovor fürchtest du dich am meisten?* , fragt der Hirsch wieder, als hätte Skuldiss nichts gesagt.
Mir wird klar, worauf er hinauswill.
* Wir werden alle ertrinken. Sidney, Kleiner Wolf …*
* Pah! Mach dir um mich keine Sorgen! Ich bin der beste Schwimmer in meinem Rudel!* , prahlt Kleiner Wolf.
Captain Skuldiss feuert einen Schuss in die Luft.
Vielleicht habe ich gerade den dümmsten Entschluss meines Lebens getroffen, aber um das herauszufinden, gibt es nur eine Möglichkeit.
* Jetzt!* , schreie ich.
Der Hirsch bäumt sich auf und springt vom Ufer aus in den Fluss. Polly stößt einen langen, lauten Schrei aus und auch Sidney kreischt vor Angst; all das wird nur noch von dem Geheul des kleinen Wolfs übertönt, der hinter uns ebenfalls ins Wasser hechtet.
Einen Moment lang habe ich das Gefühl, zu fliegen …
Himmel und Erde vertauschen ihre Plätze, und noch ehe wir recht wissen, was los ist, gehen wir auch schon unter. Mit einem dumpfen Platschen wird alles um uns herum braun.
Ich fange an zu schwimmen, packe Sidney und durchbreche keuchend die Wasseroberfläche. Neben mir paddelt der Kleine Wolf, er hat die Schnauze aufgerissen und hechelt.
»Ich kann nicht glauben, dass du das wirklich getan hast!«, schreit Polly, die neben mir an die Wasseroberfläche schießt. »Das gibt Ärger! Du kannst nicht einfach etwas tun, ohne vorher jemanden zu fragen!«
Ich kann selbst nicht glauben, was wir getan haben. Das Wasser ist eiskalt.
Die Strömung ist reißend, aber noch schlimmer ist die Kälte. Jeder Atemzug ist wie ein Schock, der ganze Körper kämpft darum, am Leben zu bleiben. Ich blicke mich panisch um. Sidneys Kopf schaut gerade noch aus dem Wasser heraus, sie zappelt wie wild, aber Kleiner Wolf schubst sie unbeholfen vor sich her.
* Das war lustig!* , keucht er zwischen zwei Zügen. * Das würde ich am liebsten gleich noch mal machen, du nicht auch, Katze? *
* Wenn das so ist* , keucht die Katze, * könnte beim nächsten Mal vielleicht jemand so nett sein und dich freundlicherweise vorher in einen Sack mit Steinen stecken und ihn zubinden .*
Kleiner Wolf guckt beleidigt und paddelt weiter.
Ich schaue zurück zu dem Kiefernwald und dem Uferstreifen, von dem wir gesprungen sind. Mit jeder Sekunde reißt uns die Strömung weiter in die Mitte der eisigen Straße der Fische. Captain Skuldiss hoppelt an den Fluss und versucht, mit seiner Krücke auf uns zu zielen, aber wir sind zu schnell, und ehe er richtig anlegen kann, hat die Strömung uns schon um eine Biegung gespült.
Wir klappern mit den Zähnen, so kalt ist es. Der Hirsch schwimmt mit kraftvollen Stößen, und wir müssen aufpassen, dass wir seinen Hufen nicht in die Quere kommen. Ich strecke die Hand übers Wasser nach Polly aus. Die Kälte ist ihr durch Mark und Bein gedrungen, sie sagt kein Wort mehr und ihre Lippen sind blau angelaufen. Über den Rücken des Hirschs hinweg fassen wir uns an den Armen, so als wäre er ein Floß, das uns trägt.
Allmählich wird es dunkel.
Ich fische Sidney aus dem Wasser und lege sie wie ein nasses Handtuch um Pollys Hals. Ihr Fell ist triefend nass, stellenweise sieht man die nackte Haut darunter. Der Kopf des Hirschs ragt kaum aus dem Wasser heraus. Wir spüren seine kräftigen Beinbewegungen, als
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