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Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Titel: Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Piers Torday
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die Melodie breitet sich in die Dunkelheit aus. Plötzlich kullert eine ungewöhnlich große Maus mit einem Stachelpanzer, der an einigen Stellen kahle Flecken aufweist, aus dem Unterholz.
    Sie kratzt sich an der trockenen Nase und richtet ihre rosafarbenen Augen auf mich.
    * Igel *, sagt sie schlicht. * Du hast mich gerufen .*
    Der Hase und ich tauschen Blicke und singen einfach weiter.
    Da purzelt eine Tierfamilie vor unsere Füße, ein wirres Knäuel aus blassen Gesichtern und zerzaustem Fell, alle balgen sich, die Kleinsten sind bis auf die Knochen abgemagert, aber sie stellen sich höflich als Wiesel vor. Sie können kaum noch auf den Beinen stehen, trotzdem unterstützen sie unseren Chor beim Ruf nach den verlorenen Tieren. Inzwischen machen wir so einen Heidenlärm, dass wir wirklich Tote aufwecken könnten. Da stehe ich – im finstersten Wald, zusammen mit einer Schar von Tieren, die eigentlich längst nicht mehr leben dürfte, und singe, so laut ich kann, ein Lied für die Letzten ihrer Art. Gemeinsam singen wir gegen die Dunkelheit an – so lange, bis niemand mehr kommt.
    * Ha! *, triumphiert der General, als ich zwischen den Bäumen hervortrete. * Die schlafenden Geister der Toten waren wohl zu viel für dich, was, Junge? *
    Der Hirsch lässt mutlos sein Geweih sinken und selbst das Wolfsjunge senkt den Kopf.
    * Da liegst du falsch, General *, sage ich. * Was, wenn die Toten dadrin gar nicht schlafen? *
    Auf mein Handzeichen hin kommt der Hase herangehoppelt, gefolgt von den Wieseln und dem Igel. Dahinter erscheinen eine Kaninchenfamilie, eine Schar Marder und sogar ein paar Fledermäuse. Manche von ihnen sind erbärmlich klein – aber Geister sind sie nicht, sondern lebendige Wesen. Falls eines dieser Tiere die körperlose Stimme der Dunkelheit war, lässt es sich nichts anmerken.
    Polly scheint ihren Augen nicht zu trauen. Kleiner Wolf springt an mir hoch und legt seine Pfoten auf meine Schulter.
    * Niemand kann so gut Tote erwecken wie du, Große Wildnis .*
    Langsam hebt der Hirsch den Kopf und nickt. Unsere Blicke treffen sich, und für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, dass er bis in mein Herz sieht. Ich frage mich, ob ich ihm von der Stimme der Dunkelheit erzählen soll – aber dann überlege ich es mir anders.
    * In diesem Wald gibt es nichts, wovor ihr euch fürchten müsst. Hört nur .*
    Und wieder stimme ich den Gesang der Tauben an. Die neuen Tiere machen mit und bald darauf stimmt auch mein Letztes Wild in den Chor ein. Unter all den Stimmen höre ich die des Generals heraus, der nach Sandohrwürmern, Gelbrandkäfern und Radnetzspinnen, nach Großen Bläulingen, Gelbwürfeligen Dickkopffaltern, Azurjungfern und Schwebfliegen ruft.
    So marschieren wir los und tragen den Gesang der Tauben mitten in den Wald der Toten hinein.
    Unterwegs lausche ich auf Geräusche abseits des Pfads, aber die feindselige Stimme kehrt nicht zurück. Im Gegenteil …
    Langsam, aber sicher tauchen immer mehr Tiere auf und schließen sich uns an. Ich halte jeden Neuankömmling mit meiner Uhr fest, der Kamerablitz erleuchtet ein ums andere Mal die Dunkelheit. Eine Zeit lang folgt der Pfad dem überwucherten Ufer eines kleinen Bachs. Als wir am Wasser vorüberziehen, springt eine Kröte auf den Weg und fällt aus vollem Halse quakend in den vielstimmigen Chor ein. Mit großen Sprüngen hüpft sie über das schlammige Ufer und versucht uns zu folgen. Ich hebe sie auf und setze sie in Pollys Schoß. Als Polly laut aufkreischt, zuckt die Kröte nicht einmal zusammen und sie macht auch sonst nichts Bedrohliches. Genau genommen sitzt sie seelenruhig in Pollys Schoß und betrachtet die Welt, wie sie vorüberzieht.
    Als ich mich das nächste Mal umdrehe, hat Polly behutsam die Hände um die Kröte gelegt.
    Polly ist die Einzige, die nicht in dem Gesang einfällt, weil sie unsere Stimmen nicht hören kann.
    Immer wieder drehe ich mich um, um zu sehen, wie sie mit der Kröte im Schoß auf dem Rücken des Hirschs sitzt. Inzwischen tanzen Schmetterlinge um ihren Kopf und Wespen summen friedlich in ihrem flatternden langen Haar.
    Unsere Blicke treffen sich, sie lächelt – und ich begreife, dass sie, egal ob Tier oder Mensch, genauso zum Letzten Wild gehört wie wir alle.
    Neben uns tauchen zwei tropfnasse Otter aus dem Wasser und tappen hinter dem Kleinen Wolf her. Mehr und mehr Vögel erscheinen über den Wipfeln und zwitschern als Antwort auf unseren Ruf ihre Namen von den Bäumen – Rotschwanzwürger, Goldammer,

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