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Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Titel: Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Piers Torday
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Schlammklümpchen, Dornen und kleine Zweige aus seinem Fell zu picken.
    Ich schaue mich unter den anderen um. Der Hirsch liegt ausgestreckt auf dem Boden, die Tiere des Waldes drängen sich im Kreis um ihn. Alle – bis auf den Wolf, der mit aufgestellten Ohren hinter mir sitzt. Aus der Dunkelheit höre ich seine Stimme.
    * Normalerweise wäre das der Augenblick, den Tod meines Vaters zu rächen. Eigentlich müsste ich jetzt den Leib des Sterbenden in Stücke reißen *, stellt der junge Wolf ohne jede Gefühlsregung fest. * Aber aus Respekt vor dir, Große Wildnis, werde ich das nicht tun .*
    Ich fauche ihn an. * Er stirbt nicht! Er stirbt überhaupt nicht, verstanden? *
    Kleiner Wolf weicht vor mir zurück und zieht den Schwanz ein. Ich wende mich wieder dem Hirsch zu.
    * Du hast keinen Ton davon gesagt. Warum hast du nie – *
    * Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich habe länger durchgehalten, als ich dachte. Ich habe dich bis hierher getragen, so wie es der Traum vorausgesagt hat .* Scharfe Böen fahren uns wie Messerklingen unter die Haut. * Jetzt musst du alleine weiter. Lass mich hier zurück, führe die anderen in die Stadt zu deinem Vater und finde das Heilmittel. Finde es für uns alle. Los jetzt, uns bleibt nicht mehr viel Zeit .*
    Ich blicke hinauf zu dem schwarzen Himmel, an dem sich die Wolken ballen.
    * Kommt nicht infrage. Ich werde dich nicht hier zurücklassen, nicht nach allem, was – *
    * Alles war vergebens, wenn du keine Medizin beschaffen kannst. Ich bleibe so lange hier und ruhe mich aus .*
    Hilflos schlage ich mit der Faust in die rissige Erde und wirble eine trockene Staubwolke über ihn.
    * Wir können dich nicht einfach hierlassen – am Rand der Stadt. Wer weiß, was dir passiert? Womöglich finden dich die Keuler – wenn dir nicht gar Schlimmeres zustößt. Du bist viel zu schwach, um dich zu wehren. In diesem Zustand können wir dich nicht alleine lassen! *
    * Ich würde euch nur unnötig aufhalten .*
    * Was hat das alles für einen Sinn? Zuerst erzählst du mir, dass ich eure Große Wildnis bin, dass ich das Kommando übernehmen und Entscheidungen treffen soll – und wenn ich dir etwas sage, hörst du nicht auf mich. Wenn wir dich jetzt zurücklassen, wirst du sterben! *
    Zögernd, weil er meine Reaktion fürchtet, sagt Kleiner Wolf: * Vielleicht, Große Wildnis, ist es genau das, was er will .*
    * Aber es ist nicht das, was ich will .*
    »Er kann auf sich selbst aufpassen. Immerhin hat er uns alle beschützt und uns sicher bis hierher geführt, oder nicht?«, sagt Polly und legt mir die Hand auf den Rücken.
    Die anderen Tiere wenden sich vom Hirsch ab und richten den Blick auf die Lichter der Stadt – so als wäre ihre Entscheidung längst gefallen.
    Ich knie mich wieder neben ihn. Seine Stimme ist so schwach, dass sie kaum an mein inneres Ohr dringt.
    * Du bist eine gute Wildnis. Ich habe dir alles Nötige beigebracht. Aber jetzt musst du mir vertrauen. Geh in die Stadt – das ist die richtige Entscheidung .* Vor seiner Schnauze bilden sich Schaumbläschen, die langsam zu Boden tropfen. * Es ist die einzige Möglichkeit. Wir haben keine Wahl .*
    Behutsam streiche ich über seine weiche, feuchte Nase und berühre sein rissiges Geweih. Er hat mich so weit getragen. Bevor ich ihn kennenlernte, hatte ich nichts. Und jetzt …
    * Oh doch, du hattest etwas, Kester *, murmelt er, und in seinen rot brennenden Augen blitzt der Anflug eines Lächelns auf.
    * Du musst mir versprechen *, sage ich heiser und versuche, meine Tränen wegzublinzeln, * dass du auf uns wartest. Dass du durchhältst. Wir kommen zurück und holen dich, versprochen. Wir machen dich wieder gesund .*
    Er ächzt. Als er wieder spricht, ist sein Ton schärfer – so wie der Wind.
    * Geht jetzt. Bevor der Sturm über uns hereinbricht. Geht! *
    Ich tue, was er sagt.
    Ein letztes Mal berühre ich seine warme Stirn, dann stehe ich auf und richte meinen Blick auf die weite Umzäunung der Stadt.
    In diesem Moment beginnt die Uhr an meinem Handgelenk zu vibrieren, obwohl die Batterie fast schon am Ende ist. Bevor die Anzeige mit einem letzten Flackern endgültig verblasst, lese ich das Wort.
    AUFGEBEN!
    Ich schalte die Uhr aus. Aufgeben ist das Letzte, was ich tun werde, egal von wem die Botschaft stammt und was sie bedeutet. In mir lodert ein Feuer, ich bin so voller wütender Energie, dass mich nicht einmal ein Heer von Keulern aufhalten könnte. Mein Letztes Wild wartet auf mich.
    Entschlossen setze ich mich in Bewegung.

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