Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Ohne einen Blick zurück laufe ich los, die leuchtenden Türme der Stadt fest im Blick.
Hinter mir höre ich Pollys hastige Schritte.
»Wo willst du hin, Kester? Du kannst doch nicht einfach mit hundert Tieren in die Stadt marschieren!«
Und ob ich das kann.
Kapitel 36
Einer nach dem anderen schlüpfen wir durch ein Loch im Zaun, das der Wind in den Maschendraht gerissen hat, und betreten die Stadt. Lautlos laufen wir über verlassene Straßen, tauchen in die dunklen Schatten unter Brückenbögen voller Graffiti und zwängen uns durch Lücken in rissigen Mauern. Als wir die letzten Ausläufer der freien Ebene endgültig hinter uns lassen, kann nur noch Kleiner Wolf mit mir Schritt halten.
Die Straße führt über eine weiße Betonzufahrt auf eine gewaltige Brücke, die sich auf hohen Pfeilern in gewundenen Bahnen über verlassene Bezirke, windschiefe Baracken und heruntergekommene Wohnwagen zwischen Bergen von Müll spannt. Zusammen mit dem Rauch aus den Schornsteinen steigt ein öliger Geruch auf, der mir den Atem verschlägt – und die Fühler des Generals neugierig zucken lässt.
Doch bald schon schwingt sich die Straße in einer sanften Kurve nach unten in das Innere der Stadt und führt uns vorbei an grauen älteren Häusern, aus deren Fenstern zerschlissene Fahnen wehen. Kleine Bäumchen in Pflanzkübeln reihen sich entlang der Hauswände wie Wachsoldaten. Unzählige kleine Läden säumen die Straße. Für einen Moment hält der alte Hase vor einem der vielen Schaufenster inne und betrachtet sein Spiegelbild. Sein Blick schweift über die verblassten und zerschlissenen Plakate auf den großen Glasflächen.
Doch je weiter wir in das Innere der Stadt vordringen, desto weniger werden die Läden. Sie haben Hochhäusern Platz gemacht. Die Glastürme ragen in den Himmel, Wohnraum für Millionen von Menschen. Die obersten Etagen thronen so hoch über uns, dass selbst die Tauben sich kaum hinaufschwingen könnten.
* Wie können die Menschen so weit oben leben? So hoch könnten wir niemals fliegen .*
* Ja, wie können die Menschen nur so hoch in den Himmel fliegen? *
»Wo sind sie alle, Kester?« Polly deutet auf die verlassenen Straßen. »Ich dachte, in Premia wimmelt es nur so von Menschen.«
Das tut es auch. Aber wir befinden uns in Gesellschaft von Tieren, und vor denen haben die Leute panische Angst, sie fürchten sich vor dem Virus. Wahrscheinlich sind sie zuvor nie einem lebenden Tier von Angesicht zu Angesicht begegnet – genau wie ich bis vor wenigen Tagen.
Im Weitergehen sehe ich fahle Gesichter gegen die Fensterscheiben im Erdgeschoss gedrückt, Jalousien sausen hastig herunter, und hell erleuchtete Räume werden plötzlich dunkel. Immer wenn die Lichtkegel von Autoscheinwerfern vor uns auftauchen, zucken die Marder nervös mit den Schnurrhaaren. Aber beim Anblick der Tiere legen die Fahrer eine Vollbremsung hin und wenden schleudernd oder schlittern in die nächstbeste Seitenstraße.
* Ha! Keiner wagt es, sich dem mächtigen Krieger der Kakerlaken zu nähern! *, triumphiert der General auf meiner Schulter.
Unser Weg führt uns am kastenförmigen Bunker der Regierungszentrale vorbei, in dem sich nichts regt. Auf einer Brücke überqueren wir den Fluss. Aus den Nebelschwaden des frühen Morgens, die tief über dem Wasser hängen, tauchen allmählich die vertäuten Schiffe und Lastkräne am Kai auf.
Irgendwann einmal war dieser Fluss eine Straße der Fische.
Der Fluss teilt Premia in zwei Hälften – in eine alte und eine neue Stadt. Im alten Teil der Stadt habe ich früher mit Ma und Pa gelebt.
Wir legen eine kurze Verschnaufpause ein und die Tiere starren durch die Streben der Brücke hinunter auf das vorbeiströmende Wasser. Ich schaue weiter den Fluss hinunter, wo am rechten gegenüberliegenden Ufer vier hohe dunkle Schornsteine aus dem Nebel ragen. Unwillkürlich fröstelt es mich, als ich sie nach sechs Jahren das erste Mal wieder sehe – die vier Türme von Facto.
Aber dorthin werden wir nicht gehen. Nach der Brücke biegen wir links ab.
Danach rechts und noch mal nach links.
Dort gibt es keine Türme, nur gepflasterte Wege und lange Einfahrten, die zwischen hohen Zäunen und Mauern und Überwachungskameras zu Wohnhäusern führen. Überall gehen von Bewegungsmeldern gesteuerte Lichter an, sobald wir an ihnen vorbeikommen. Der Wind scheint sich an unsere Fersen geheftet zu haben und verfolgt uns unerbittlich durch die Straßen. Aber inzwischen ist er nicht mehr nur kalt.
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