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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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Radiostationen der Welt einprogrammiert und besitze eine Sammlung von etwa vierzig Oldies . Es gibt ein paar amerikanische Sender, die bieten ein Programm mit ausschließlich Sachen aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Alle anderen beschränken sich auf eine Erkundung der neunziger Jahre, die schon als die fernste Vergangenheit betrachtet werden. In einer Umfrage wurde unlängst Quentin Tarantino als bester Regisseur aller Zeiten genannt. Das befragte Publikum dürfte also weder Eisenstein noch Ford, noch Welles, noch Capra usw. gesehen haben. Das ist der typische Mangel dieser Art von Umfragen. In den siebziger Jahren habe ich ein Buch darüber geschrieben, wie man eine Diplomarbeit oder Dissertation verfertigt, es wurde in sämtliche Sprachen übersetzt. Der erste Ratschlag, den ich in dem Buch gab, in dem ich wirklich zu allem Ratschläge erteilte, lautete, nie ein zeitgenössisches Thema zu wählen. Entweder ist keine Bibliographie dazu vorhanden oder sie ist nicht verlässlich. Wählt immer ein klassisches Thema, riet ich. Die Mehrzahl der Dissertationen heute behandelt aber zeitgenössische Themen. So bekomme ich jede Menge Arbeiten zugeschickt, die sich mit meinem Werk befassen. Das ist verrückt! Wie kann man nur eine Arbeit über jemand schreiben, der noch am Leben ist?
     
    J.-C. C.: Wenn wir ein kurzes Gedächtnis haben, so liegt das tatsächlich daran, dass diese nahe Vergangenheit die Gegenwart anschiebt und in eine Zukunft stößt, die die Gestalt eines enormen Fragezeichens angenommen hat. Oder sogarschon eines Ausrufezeichens. Wo ist die Gegenwart geblieben? Dieser wunderbare Augenblick, den wir gerade durchleben und den uns eine Vielzahl von Verschwörern zu rauben versuchen? Manchmal komme ich wieder in Kontakt mit diesem Augenblick, bei mir auf dem Land, wenn die Kirchturmglocke gemächlich jede Stunde schlägt, eine Art Grundton, der uns zu uns selbst bringt. »Sieh da, erst fünf Uhr …« Wie Sie bin ich viel auf Reisen, ich verliere mich in den Zeitzonen, in den Zeitverschiebungen und habe immer mehr das Bedürfnis, mich an diese Gegenwart zu binden, die für uns ungreifbar wird. Sonst hätte ich das Gefühl, verloren zu sein. Vielleicht sogar tot.
     
    U. E.: Das Verschwinden der Gegenwart, von dem Sie sprechen, ist nicht nur dadurch bedingt, dass die Moden, die früher dreißig Jahre lang herrschten, heute dreißig Tage dauern. Es ist auch das Problem des Veraltens der Dinge, von dem wir hier sprechen. Sie brauchten ein paar Monate ihres Lebens, um Fahrradfahren zu lernen, aber wenn diese Fähigkeit einmal erworben war, blieb sie für immer. Heute dagegen bringen Sie zwei Wochen damit zu, ein neues Computerprogramm zu verstehen, und kaum beherrschen Sie es einigermaßen, wird Ihnen ein neues vorgeschlagen, ja aufgezwungen. Das Problem ist also nicht, dass hier ein kollektives Gedächtnis verlorenginge. Für mich ist es eher das einer Labilität der Gegenwart. Wir leben in keiner beschaulichen Gegenwart mehr, sondern wir stehen vor der Anforderung, uns ständig auf die Zukunft vorzubereiten.
     
    J.-C. C.: Wir haben uns in der Mobilität eingerichtet, im Veränderlichen, im Erneuerbaren, im Vorübergehenden, und das paradoxerweise in einer Zeit, in der wir, wie gesagt, immerlänger leben. Die Lebenserwartung unserer Großeltern war zweifellos geringer als unsere, aber sie waren in einer unveränderlichen Gegenwart zu Hause. Der Großvater meines Onkels, ein Grundbesitzer, machte am 1. Januar seinen Haushaltsplan für das kommende Jahr. Die Ergebnisse des Vorjahres ließen ihn ungefähr voraussehen, was das folgende Jahr bringen würde. Da änderte sich nichts.
     
    U. E.: Früher bereiteten wir uns auf eine Abschlussprüfung vor, die das Ende einer langen Zeit des Lernens markierte: in Italien die maturità , in Deutschland das Abitur, in Frankreich das baccalauréat . Danach war niemand mehr gehalten, etwas zu lernen, außer der Elite, die auf die Universität ging. Die Welt änderte sich nicht. Was man wusste, konnte man bis zum Tod anwenden und bis zum Tod seiner Kinder. Mit achtzehn oder zwanzig Jahren ging man in den epistemologischen Ruhestand. Heute muss der Angestellte in einem Unternehmen sein Wissen ständig erneuern oder er riskiert, seinen Job zu verlieren. Die Übergangsriten, die die großen Prüfungen am Ende von Schulzeit und Studium einst darstellten, haben keine Bedeutung mehr.
     
    J.-C. C.: Was Sie da sagen, galt zum Beispiel auch für die Mediziner. Das Wissen, das sie

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