Die große Zukunft des Buches
gingen, in einem Köfferchen eine Reisebibliothek mit sich. Dreißig oder vierzig Bände in Kleinformat, so waren sie nie abgeschnitten von dem, was ein gebildeter Mensch anWissen parat haben musste. Natürlich wurden diese Bibliotheken nicht in Gigabytes gemessen, aber das Prinzip war schon da.
Das alles erinnert mich an eine andere Form von »Kurzfassung«, die aber problematischer ist. In den siebziger Jahren lebte ich in New York, in einer Wohnung, die mir ein Filmproduzent zur Verfügung gestellt hatte. Es gab keine Bücher in dieser Wohnung, außer einer kleinen Sammlung von »Meisterwerken der Weltliteratur in digest form «. Das ist etwas wirklich Unglaubliches: Krieg und Frieden auf fünfzig Seiten, der ganze Balzac in einem Band. Ich konnte es nicht fassen. Alles war da, aber unvollständig, verstümmelt. Eine immense Arbeit für etwas so Absurdes!
U. E.: Aber Kurzfassung ist nicht gleich Kurzfassung. In Italien ist in den dreißiger, vierziger Jahren eine wunderbare Reihe erschienen, sie hieß »La scala d’oro« (Die goldene Leiter). Es handelte sich um Bücher, die nach Altersstufen eingeteilt waren. Da gab es solche für Sieben- bis Achtjährige, solche für Acht- bis Neunjährige und so weiter bis hinauf zu Vierzehnjährigen, alle ganz vorzüglich illustriert von den besten damaligen Künstlern. Alle Meisterwerke der Weltliteratur hatten darin Platz gefunden. Um die Texte für das jeweilige Publikum zugänglich zu machen, war jedes Werk von einem guten Jugendbuchautor umgeschrieben worden. Das war natürlich ein wenig ad usum delphini . So brachte zum Beispiel der Polizist Javert in Die Elenden sich nicht um, sondern quittierte bloß den Dienst. Ich muss gestehen, dass ich die ganze Wahrheit über ihn erst erfahren habe, als ich Die Elenden später im Original las. Aber ich muss zugeben, dass mir das Wesentliche vermittelt worden war.
J.-C. C.: Einziger Unterschied: Diese Miniaturbibliothek in der Wohnung des Produzenten war für Erwachsene bestimmt. Und außerdem war sie dort, habe ich den Verdacht, mehr um vorgezeigt und gesehen, weniger um gelesen zu werden. Doch abgesehen davon hat es Verstümmelungen zu jeder Zeit gegeben. Die ersten Shakespeare-Dramen, die im 18. Jahrhundert von dem Abbé Delille ins Französische übersetzt wurden, gingen alle gut aus, auf schickliche und moralische Weise, wie bei Ihren Die Elenden in der Reihe »La scala d’oro«. Hamlet zum Beispiel starb nicht. Abgesehen von den kurzen Auszügen, die Voltaire übersetzt hatte – übrigens ziemlich gut –, konnte das französische Publikum hier zum ersten Mal Shakespeare lesen – in derart entschärfter Form. Dieser Autor, von dem es hieß, er sei barbarisch und blutrünstig, war ganz Galanterie und Schmalz.
Wissen Sie, wie Voltaire das To be or not to be, that is the question übersetzt hat? Arrête, il faut choisir et passer à l’instant / De la vie à la mort ou de l’être au néant. (»Halt ein, man muss wählen und augenblicklich übergehen / Vom Leben zum Tod oder vom Sein zum Nichts.«) Nicht schlecht im Grunde. Möglich, dass Sartre seinen Titel L’Être et le Néant von dieser Übersetzung Voltaires übernommen hat.
J.-P. DE T.: Jean-Claude, Sie erwähnten die ersten USB-Sticks, die Minibibliotheken, die gebildete Reisende im 18. Jahrhundert mit sich führten. Haben Sie das Gefühl, dass der Großteil unserer technischen Erfindungen die Verwirklichung alter Menschheitsträume ist?
U. E.: Der Traum vom Fliegen beschäftigt die Phantasie der Menschheit seit unvordenklichen Zeiten.
J.-C. C.: Ich glaube tatsächlich, dass viele Erfindungen unserer Zeit die Verwirklichung uralter Träume sind. Das habe ich auch zu meinen Freunden gesagt, den Naturwissenschaftlern Jean Audouze und Michel Cassé, als wir an unserem gemeinsamen Buch Conversations sur l’invisibile (Gespräche über das Unsichtbare) arbeiteten. Ein Beispiel: Unlängst habe ich mich wieder einmal in das berühmte Sechste Buch der Äneis vertieft, wo Äneas ins Reich der Schatten hinabsteigt, was für die Römer die Seelen derjenigen waren, die schon gelebt haben, zugleich aber auch derjenigen, die eines Tages leben würden. Die Zeit ist hier abgeschafft. Vergils Schattenreich nimmt ein Einsteinsches Raum-Zeit-Kontinuum vorweg. Ich las diese Seiten wieder und sagte mir, dass Vergil schon in die virtuelle Welt hinabgestiegen ist, ins Innere eines enormen Computers, wo sich stumme Avatarsdrängen. Sämtliche Gestalten, denen
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