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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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man in dieser Welt begegnet, waren schon einmal jemand oder haben die Möglichkeit, eines Tages jemand zu sein. Marcellus ist in der Äneis ein wunderbarer junger Mann, von dem man sich zu Vergils Lebzeiten viel erwartete und der unglücklicherweise sehr jung verstorben ist. Wenn er mit den Worten angeredet wird: »Du wirst Marcellus sein« ( tu Marcellus eris ), während der Leser weiß, dass er tot ist, erblicke ich darin die gesamte Dimension des Virtuellen, das ganze Potential dessen, der unvergesslich hätte werden können, vielleicht der erwartete schicksalhafte Retter, und der bloß Marcellus war, ein früh verstorbener junger Mann.
    Als hätte Vergil diese virtuelle Welt vorausgeahnt, in der wir uns mit so viel Vergnügen bewegen. Dieser Abstieg in die Unterwelt ist ein wunderbares Motiv, das in der Weltliteratur auf unterschiedliche Weise behandelt wurde. Er ist das einzige uns gegebene Mittel, Raum und Zeit zugleich zuüberwinden, das heißt ins Reich der Toten oder der Schatten einzudringen und uns in Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig zu bewegen, im Sein und im Nichts. Und so eine Art virtuelle Unsterblichkeit zu erlangen.
    Ein anderes Beispiel hat mich immer sehr beeindruckt. Im Mahabharata gibt es eine Königin mit Namen Gandhari, sie ist schwanger, kann aber nicht niederkommen. Das ist jedoch unbedingt erforderlich, damit ihr Kind vor dem ihrer Schwägerin zur Welt kommt, denn der zuerst Geborene wird König. Gandhari bittet eine kräftige Dienerin, ihr mit einer Eisenstange aus voller Kraft auf den Bauch zu schlagen. Da springt aus ihrer Vagina eine Eisenkugel und rollt auf den Boden. Sie will sie schon wegwerfen, verschwinden lassen, da rät ihr jemand, die Kugel in hundert Stücke zu zerschneiden und jedes Stück in einen Krug zu legen, so würden ihr hundert Kinder geboren. Was auch tatsächlich geschieht. Ist das nicht schon ein Bild der künstlichen Befruchtung? Nehmen diese Krüge nicht unsere Reagenzgläser vorweg?
    Die Beispiele ließen sich mühelos fortsetzen. Ebenfalls im Mahabharata wird Sperma konserviert, transportiert und wiederverwendet. Eines Nachts in Calanda ersetzt die Jungfrau Maria das verlorene Bein eines spanischen Bauern, das ist doch schon eine erste Transplantation. Und wie viele Klone, wie viel Sperma, das nach dem Tod des Mannes verwendet wird? Wie viele Schimären sogar, die wir für immer in fernen Nebeln verschwunden glaubten – Ziegenkopf, Schlangenschwanz, Löwenkrallen – und die wir nun in den Träumereien der Laboratorien wiederkehren sehen?
     
    U. E.: Nicht die Verfasser des Mahabharata haben die Zukunft vorausgesehen, sondern unsere Gegenwart hat die Träume der Menschen verwirklicht, die uns vorausgegangensind. Sie haben völlig recht. Wir sind zum Beispiel dabei, den Traum vom Jungbrunnen zu verwirklichen. Wir werden immer älter und sind in der Lage, unsere Tage in geradezu unverschämt guter Form zu beschließen.
     
    J.-C. C.: In fünfzig Jahren werden wir alle biomechanische Wesen sein. Zum Beispiel sehe ich Sie, Umberto, aus künstlichen Augen an. Ich habe mich vor drei Jahren einer Augenoperation unterzogen, als ein grauer Star auftrat, was mir nun das Brillentragen erspart, zum ersten Mal in meinem Leben. Und der Erfolg der Operation ist für fünfzig Jahre garantiert! Meine Augen erfreuen sich heute bester Gesundheit, aber ein Knie lässt mich im Stich. Ich muss mich also entscheiden, ob ich es auswechseln lasse oder nicht. An irgendeiner Stelle ist eine Prothese fällig. Zumindest eine.
     
    J.-P. DE T.: Die Zukunft ist nicht vorhersehbar. Die Gegenwart ist in ständiger Bewegung. Die Vergangenheit, von der man annahm, sie böte Trost und ein sicheres Bezugssystem, entzieht sich. Führen wir ein Gespräch über die Unbeständigkeit?
     
    J.-C. C.: Die Zukunft kümmert sich nicht um die Vergangenheit, aber noch weniger um die Gegenwart. Flugzeugbauer arbeiten heute an Flugzeugen, die in zwanzig Jahren einsatzfähig sein werden, aber auf den Betrieb mit Kerosin angelegt sind, das es dann vielleicht gar nicht mehr gibt. Was mich wirklich verblüfft, ist das völlige Verschwinden der Gegenwart. Wie werden von Retro-Moden verfolgt wie noch nie. Die Vergangenheit holt uns mit aller Geschwindigkeit ein. Bald werden wir die Mode vom letzten Vierteljahr wiederbekommen. Die Zukunft ist wie immer ungewiss,und die Gegenwart verengt sich zusehends, entzieht sich.
     
    U. E.: Apropos Vergangenheit, die uns einholt: Ich habe auf meinem Computer die besten

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