Die große Zukunft des Buches
Lachèvre, der sich für diese Dichter begeisterte und sie in kleiner Auflage neu herausbrachte. Ihm ist es zu danken, dass wir sie noch lesen können.
U. E.: Sie sprechen von vergessenen französischen Barockdichtern. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam ein Großteil der italienischen Barockpoesie in den Lehrplänen italienischer Schulen überhaupt nicht vor, weil sie als ein Ausdruck der Dekadenz galt. Ich gehöre einer Generation an, die im Studium, nicht in der Schule, durch Vorlesungen innovativer Lehrer das Barock wiederentdeckt hat, und zwar so gründlich, dass es mich persönlich zu meinem Roman Die Insel des vorigen Tages inspirierthat, der in jener Zeit spielt. Aber wir haben auch dazu beigetragen, unsere Sicht des Mittelalters zu revidieren, eine Revision, die schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte. Ich habe über die Ästhetik des Mittelalters gearbeitet. Es gab damals zwei oder drei Gelehrte, die sich in bewundernswürdiger Weise damit befassten, doch das Gros der intellektuellenWelt sträubte sich weiter dagegen, und man musste große Beharrlichkeit an den Tag legen. Aber Ihre Nicht-Entdeckung und unsere Wiederentdeckung des Barock hängen auch damit zusammen, dass Frankreich in der Architektur kein wirkliches Barock gekannt hat. Das französische 17. Jahrhundert ist bereits klassisch. Während in Italien zur gleichen Zeit Bernini und Borromini wirken, die in architektonischer Hinsicht diese Poesie perfekt spiegeln. Ihr Franzosen habt daher den Furor und die schwindelerregenden Gewagtheiten dieser Architektur nicht erlebt. Die Kirche Saint Sulpice ist nicht barock. Ich will gar nicht so weit gehen wie Huysmans und behaupten, sie sei das Vorbild für sämtliche französischen Bahnhöfe, aber …
J.-C. C.: Das hat ihn nicht daran gehindert, einen Teil der Handlung seines Romans Tief unten dort anzusiedeln.
U. E.: Ich mag das ganze Viertel Saint Sulpice, selbst die Kirche. Sie erinnert mich nur einfach nicht an das große italienische oder bayerische Barock, obwohl der Architekt, Servandoni, ein Italiener war.
J.-C. C.: Als Henri IV. die Place des Vosges in Paris erbauen ließ, war sie schon sehr wohlgeordnet, das stimmt.
U. E.: Sind die Loire-Schlösser nach dem Muster von Chambord, obwohl in der Renaissance geplant, wirklich die einzigen Beispiele für ein französisches Barock?
J.-C. C.: In Deutschland ist das Barock ein Äquivalent der Klassik.
U. E.: Deshalb ist Andreas Gryphius für die Deutschen ein großer Dichter und entspricht wahrscheinlich in etwa Ihren vergessenen französischen Dichtern. Jetzt sehe ich noch einen weiteren Grund dafür, warum das Barock hier mehr, da weniger Pracht entfaltet. Das Barock entsteht in einer Zeit des politischen Niedergangs, wie im Falle Italiens, während in Frankreich zur gleichen Zeit die politische Zentralgewalt erheblich erstarkt. Ein übermächtiger König kann seinen Architekten nicht gestatten, ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen. Das Barock ist extrem freizügig, anarchisch.
J.-C. C.: Fast rebellisch. Und zur selben Zeit steht Frankreich im Bann des schrecklichen Verdikts von Boileau, der erklärte: Enfin Malherbe vint et le premier en France / Fit sentir dans ses vers une juste cadence (Endlich kam Malherbe und ließ als erster in Frankreich / in seinen Versen den rechten Takt erklingen). Boileau, das ist wirklich der Antipoet par excellence. Um einen weiteren Autor zu erwähnen, der lange verkannt war und erst unlängst wiederentdeckt wurde, einen Zeitgenossen unseres französischen Taliban in poeticis , muss man Baltasar Gracián nennen, den Verfasser der berühmten Spruchsammlung Handorakel und Kunst der Weltklugheit .
U. E.: Es gibt noch eine andere bedeutende Figur in dieser Zeit. Etwa zur gleichen Zeit, als Gracián in Spanien an seinem Oraculo manual y arte de prudencia schrieb, verfasste in Italien Torquato Accetta seinen Traktat Della onesta dissimulazione (Über die ehrbare Verstellung). Gracián und Accetta stimmen in vielen Punkten überein. Aber während Gracián empfiehlt, bei Hof ein Verhalten an den Tag zu legen, das nicht erkennen lässt, wie man ist, um besser brillierenzu können, rät Accetta zu einem Verhalten, das verbirgt, was man ist, um sich besser zu schützen. Das sind Nuancen, gewiss, mit denen die beiden Autoren die Verstellung bei Hof begründen, der eine, um glänzender zu erscheinen, der andere, um möglichst gar nichts durchscheinen zu
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