Die große Zukunft des Buches
besangen, wie Catull oder Properz. Der moderne, sogenannte »bürgerliche« Roman entstand in England unter ganz spezifischen ökonomischen Bedingungen. Die Autoren schrieben ihre Romane für die Frauen der Handelsherren oder Seefahrer, die per definitionem ständig auf Reisen waren, für Frauen, die lesen konnten und Zeit dazu hatten. Aber auch für deren Dienstmädchen, sofern die einen wie die anderen Kerzen zur Verfügung hatten, um nachts zu lesen. Der bürgerliche Roman ist im Kontext einer Handelsökonomie entstanden und wendet sich im Wesentlichen an Frauen. Und sobald man entdeckte, dass Herr Richardson mit der Geschichte eines Dienstmädchens gut verdiente, meldeten sich sogleich weitere Thronanwärter.
J.-C. C.: Kreative Strömungen sind oft von kleinen Gruppen ausgegangen, von Leuten, die sich kannten oder im selben Moment die gleichen Wünsche hegten. Man könnte fast sagen, von Cliquen. Alle Surrealisten, mit denen ich verkehren konnte, haben mir gesagt, dass sie sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nach Paris gerufen fühlten. Man Ray kam aus den Vereinigten Staaten, Max Ernst aus Deutschland, Buñuel und Dalí aus Spanien, Benjamin Péret aus Toulouse, um in Paris Gleichgesinnte zu treffen, mit denen sie neue Bilder, neue Sprachen erfinden konnten. Das ist wie bei der »Beat-Generation«, der Nouvelle Vague, den italienischen Filmemachern, die sich in Rom zusammenfanden und so weiter. Auch bei den iranischen Dichtern des 12. und 13. Jahrhunderts, die aus dem Nichts kamen. Ich möchte diese wunderbaren Dichter gern beim Namen nennen, es sind Attar, Rumi, Saadi, Hafis, Omar Khayy ā m. Sie kannten sich alle, und alle haben bestätigt, was Sie sehr richtig sagten: den entscheidenden Einfluss erhielten sie von ihren Vorgängern. Dann ändern sich die Bedingungen plötzlich, die Inspiration versiegt, manchmal brechen die Gruppen auseinander, immer zerstreuen sie sich und das gemeinsame Abenteuer schlägt fehl. Im Iran haben die verheerenden Mongolenüberfälle eine Rolle gespielt.
U. E.: Ich erinnere mich an ein schönes Buch von Allan Chapman, in dem nachgewiesen wurde, wie Oxford im 17. Jahrhundert rund um die Royal Society ein blühendes Zentrum der Physik war, aufgrund der Anwesenheit einer Reihe von erstrangigen Intellektuellen, die sich gegenseitig beeinflussten. Dreißig Jahre später war das vorbei. Genauso war es mit den Mathematikern in Cambridge zu Anfang des 20. Jahrhunderts.
J.-C. C.: So gesehen scheint das einsame Genie nicht vorstellbar. Die Dichter der Pléiade – Ronsard, du Bellay, Marot – waren Freunde. Ebenso die französischen Klassiker: Molière, Racine, Corneille und Boileau kannten sich alle so gut, dass die absurde Behauptung aufkommen konnte, Corneille habe die Stücke Molières geschrieben. Die großen russischen Romanciers standen in Briefkontakt miteinander, ebenso ihre französischen Kollegen: Turgenjew und Flaubert zum Beispiel. Wenn ein Autor verhindern will, dass er ausgefiltert wird, tut er gut daran, sich zu verbünden, sich einer Gruppe anzuschließen, nicht isoliert zu bleiben.
U. E.: Das Geheimnis bei Shakespeare ist, dass man nicht begreifen kann, wie ein einfacher Schauspieler ein so geniales Werk zustande bringen konnte. Das ging ja sogar bis zur Vorstellung, Shakespeares Theaterstücke könnten von Francis Bacon geschrieben sein. Aber nicht doch. Shakespeare war einfach nicht isoliert, er lebte inmitten einer gebildeten Gesellschaft und umgeben von anderen elisabethanischen Dichtern.
J.-C. C.: Jetzt eine Frage, auf die ich keine Antwort weiß. Warum zieht anscheinend jede Epoche eine bestimmte Kunstgattung vor und vernachlässigt dafür alle anderen? Malerei und Architektur im Italien der Renaissance; die Lyrik im England des 16. Jahrhunderts; das Theater im Frankreich des 17. Jahrhunderts; dann die Philosophie; im 19. der Roman in Frankreich und Russland und so weiter. Ich habe mich beispielsweise immer gefragt, was Buñuel aus seinem Leben gemacht hätte, wenn es den Film nicht gegeben hätte. Ich erinnere mich auch an kategorische Urteile von François Truffaut: »Es gibt kein englisches Kino, es gibt kein französischesTheater.« Als ob das Theater per se englisch und das Kino per se französisch wäre. Das ist natürlich überspitzt formuliert.
U. E.: Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass wir dieses Rätsel unmöglich lösen können. Dazu müsste man unendlich viele Faktoren berücksichtigen. Fast so, als wollte man die
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