Die große Zukunft des Buches
Wahrscheinlichkeit, ein Manuskript von Sophokles zu finden, größer als zur Zeit Schliemanns.
J.-P. DE T.: Als Bibliophile und Buchliebhaber, was wäre da Ihr größter Wunsch? Was würden Sie auf einer Baustelle gern aus der Erde auftauchen sehen?
U. E.: Ich persönlich würde gern ein weiteres Exemplar der Gutenberg-Bibel finden, des ersten gedruckten Buches überhaupt. Ich hätte auch Interesse daran, dass man die verlorenen Tragödien wiederfindet, von denen Aristoteles in seiner Poetik spricht. Sonst sehe ich nicht so viele verschwundene Bücher, die mir fehlen. Vielleicht, weil sie nicht ohne Grund verschwunden sind, wie wir sagten, weil sie es nämlich nicht verdienten, der Vernichtung durch Feuer oder den Inquisitor zu entgehen.
J.-C. C.: Was mich betrifft, ich wäre entzückt, einen unbekannten Maya-Kodex zu entdecken. Als ich 1964 zum ersten Mal nach Mexiko kam, eröffnete man mir, dass es etliche Hunderttausende registrierter Pyramiden gebe, dass aber nur in dreihundert davon gegraben werde. Jahre später fragte ich einen Archäologen, der in Palenque arbeitete, wie lang die Ausgrabungsarbeiten an diesem Ort noch dauern würden. Er antwortete mir: »Ungefähr fünfhundertfünfzig Jahre.« Die präkolumbianische Welt bietet uns zweifellos das grausamste Beispiel für den Versuch, ein »Geschriebenes«, auch noch die letzte Spur einer Sprache, eines Ausdrucks, einer Literatur, das heißt eines Denkens radikal auszulöschen, als ob diese besiegten Völker keinerlei Erinnerung verdienten. In Yucatan wurden stapelweise Kodizes verbrannt, unter der Leitung irgendwelcher christlicher Taliban. Ein paar seltene Exemplare haben überlebt, bei Azteken wie Mayas, manchmal unter den abenteuerlichsten Umständen. Ein Maya-Kodex wurde Anfang des 19. Jahrhundertsin Paris von einem »geübten Auge« entdeckt, vor einem Kamin, in dem er gleich hätte verfeuert werden sollen.
Gleichwohl sind die alten Sprachen Amerikas nicht ausgestorben. Sie erleben sogar eine Renaissance. Nahuatl, die Sprache der Azteken, strebt in Mexiko den Status der Nationalsprache an. Warten auf Godot ist soeben in Nahuatl übersetzt worden. Ich habe mir schon ein Exemplar der »Erstausgabe« reservieren lassen.
J.-P. DE T.: Kann man sich vorstellen, dass morgen ein Buch entdeckt wird, von dessen Existenz nichts bekannt war?
J.-C. C.: Dazu gibt es eine ganz außergewöhnliche Geschichte. Hauptfigur darin ist Paul Pelliot, ein junger französischer Entdecker vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Er war ein hochbegabter Linguist, ein wenig wie Champollion ein Jahrhundert zuvor, und Archäologe. Er arbeitete mit einem deutschen Team in Westchina, auf einer der Seidenstraßen in der Provinz Dunhang. In der Tat weiß man seit geraumer Zeit von Karawanenreisenden, dass es in dieser Gegend Höhlen mit Buddhastatuen und zahlreichen anderen Gegenständen gibt.
1911 entdeckten Pelliot und seine Kollegen eine Höhle, die seit dem 10. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zugemauert war. Sie verhandelten mit der chinesischen Regierung und ließen sie öffnen. Es stellte sich heraus, dass darin 70000 Manuskripte aus der Zeit vor dem 10. Jahrhundert lagerten! Einige behaupteten, es handle sich um die größte archäologische Entdeckung des 20. Jahrhunderts. Eine Höhle voller unbekannter Bücher! Stellen wir uns vor, wir treten mit einem Schlag in die Bibliothek von Alexandria ein, und alles ist erhalten geblieben! Pelliot – geübtes Augewie kaum eines – muss etwas Ähnliches empfunden haben, eine überwältigende Freude. Wie schnell schlug sein Herz? Eine Fotografie zeigt ihn inmitten von Stapeln alter Texte sitzend, wie er sich mit einer Kerze Licht macht. Über die Maßen glücklich, gar kein Zweifel.
Drei Wochen blieb er in der Höhle inmitten dieser Schätze und begann sie zu klassifizieren. Er entdeckte zwei ausgestorbene Sprachen, darunter das alte Pahlavi, ein frühes Persisch. Er entdeckte auch den einzigen geschriebenen manichäischen Text, den wir besitzen; er ist auf Chinesisch von den Manichäern selbst verfasst, nicht von ihren Gegnern, ein Text, über den Nahal, meine Frau, ihre Dissertation geschrieben hat. Mani wird darin »der Buddha des Lichts« genannt. Und noch ein Reihe anderer unglaublicher Dokumente. Es gelang Pelliot, die französische Regierung davon zu überzeugen, dass sie in Abstimmung mit den Chinesen ungefähr 20 000 von diesen Manuskripten ankaufte. Sie bilden heute den Fonds Pelliot in der Bibliothèque
Weitere Kostenlose Bücher