Die große Zukunft des Buches
Aber zwischen der Machtergreifung Hitlers 1933 und dem Tod Stalins zwanzig Jahre später zählt man auf unserem Planeten an die hundert Millionen gewaltsam getötete Menschen. Mehr vielleicht als in allen anderen Kriegen der Weltgeschichte. Nazismus und Marxismus sind aber zwei atheistische Ungeheuer. Als die Welt nach dem Massaker staunend wieder zu sich kam, schien es völlig normal, zu religiösen Praktiken zurückzukehren.
U. E.: Aber die Nazis brüllten »Gott mit uns«, und sie praktizierten eine heidnische Religion! Sobald der Atheismus Staatsreligion wird wie in der Sowjetunion, gibt es keinen Unterschied mehr zwischen einem Gläubigen und einem Atheisten. Beide können Fundamentalisten werden, Taliban. Irgendwann einmal habe ich geschrieben, es sei nicht richtig, dass Religion Opium fürs Volk sei, wie Marx behauptete. Opium würde das Volk lähmen, betäuben, einschläfern. Nein, Religion ist Kokain fürs Volk. Sie peitscht die Massen auf.
J.-C. C.: Sagen wir, eine Mischung aus Opium und Kokain. Es stimmt, dass der moslemische Integralismus heute anscheinend die Fackel des militanten Atheismus übernommen hat und dass wir Marxismus und Nazismus rückblickend als zwei seltsame heidnische Religionen betrachten können. Aber was für Massaker!
Nichts wird der Eitelkeit Einhalt gebieten
J.-P. DE T.: Die Vergangenheit wird uns auf alle möglichen Weisen verzerrt überliefert, vor allem dann, wenn die Dummheit an diesem Überlieferungs-Prozess beteiligt ist. Sie haben mehrfach betont, dass die Kultur gern nur die kreativen Spitzenleistungen festhält, die Himalajagipfel, und so gut wie alles vernachlässigt, was uns nicht wirklich zum Ruhm gereicht. Können Sie uns ein paar Beispiele für solche »Meisterwerke« der anderen Art geben?
J.-C. C.: Da kommt mir sofort ein außerordentliches Werk in drei Bänden in den Sinn, La Folie de Jésus (Die Verrücktheit Jesu), worin der Autor erklärt, dieser Mensch sei in Wirklichkeit »physisch und mental entartet« gewesen. Der Autor, Binet-Sanglé, der eigentlich ein angesehener Professor der Medizin war, brachte seinen Essay zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 1908, heraus. Ich gebe eine kleine Blütenlese: »Zeigt lang anhaltende Anorexie und einen Anfall von Hämidrosis, vorzeitiger Tod am Kreuz durch eine Synkope in der Deglutition, begünstigt durch das Vorhandensein einer linksseitigen pleuralen Ausstülpung, wahrscheinlich tuberkulöser Natur …« Der Autor erklärt, Jesus sei kleinwüchsig und leichtgewichtig gewesen, er sei Spross einer Weinbauernfamilie, wo man guten Wein getrunken habe usw. Kurz, »seit tausendneunhundert Jahren lebt die abendländische Menschheit mit einer Fehldiagnose«. Dieses Buch ist verrückt, aber mit einem solchen Ernst geschrieben, dass es einem Respekt abnötigt.
Ich besitze noch ein anderes Schmuckstück. Es handelt sich um einen französischen Prälaten aus dem 19. Jahrhundert, den eines Tages die Erleuchtung trifft. Er sagt sich, dass die Atheisten nicht pervers sind, nein, und auch nicht böse. Sie sind einfach nur verrückt. Das Heilmittel ist also sehr simpel. Man muss sie in Heime für Atheisten sperren und behandeln. Dazu muss man sie kalt abduschen und zwingen, täglich zwanzig Seiten Bossuet zu lesen. Die meisten erreichen den Stand der Heiligkeit.
Der Autor, ein Mann namens Lefebre, war sichtlich mit Feuereifer bei der Sache und legte sein Werk den großen Nervenärzten seiner Zeit vor, Pinel, Esquirol, die ihn natürlich nicht vorließen. Ich habe fürs Fernsehen einen Film geschrieben, Credo war der Titel, der vor fünfundzwanzig Jahren von Jacques Deray gedreht wurde und wo ich vom genauen Gegenteil zu diesem gestörten Geistlichen ausging, der sämtliche Atheisten einsperren und duschen wollte. Ich hatte in Le Monde eine Notiz gelesen, die von einem Professor für Geschichte im ukrainischen Kiew berichtete, er war vom KGB verhaftet, verhört, für verrückt erklärt und eingesperrt worden, weil er an Gott glaubte. Ich malte mir das Verhör aus.
U. E.: Man sollte noch weiter zurückgehen. Bei der Arbeit an meinem Buch über die Suche nach der vollkommenen Sprache bin ich auf verrückte Sprachwissenschaftler gestoßen, auf Autoren verrückter Theorien über den Ursprung der Sprache, unter denen die Nationalisten die amüsantesten sind – ihrer Ansicht nach war die jeweilige Sprache ihres Landes die Sprache Adams. Nach Guillaume Postel stammten die Kelten von Noah ab. In Spanien ließen andere die
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