Die große Zukunft des Buches
hatten uns in der Vorbereitungsklasse zur École Normale Supérieure kennengelernt.
U. E.: Ich glaube, wenn auch auf deutlich unterschiedene Weise liegen wir doch auf derselben Wellenlänge. In dem Text, um den Sie mich für den Abschluss Ihrer Enzyklopädie La Mort de l’Immortalité (Der Tod der Unsterblichkeit) baten, schrieb ich, um die Vorstellung unseres Todes akzeptieren zu können, müssten wir uns davon überzeugen, dass die, die nach uns dablieben, allesamt Blödiane seien und es nicht der Mühe wert wäre, weitere Zeit mit ihnen zu verbringen. Das ist eine paradoxe Art, eine Wahrheit auszudrücken, nämlich die, dass wir unser ganzes Leben lang die großen menschlichen Tugenden gepflegt haben. Der Mensch ist wirklich ein ganz außerordentliches Geschöpf. Er hat das Feuer entdeckt, Städte erbaut, großartige Gedichte geschrieben, sich an Weltdeutungen versucht, mythologische Bilder erfunden und so weiter. Gleichzeitig aber hat er nicht davon abgelassen, gegen seinen Nächsten Krieg zu führen, sich zu irren, seine Umwelt zu zerstören und so weiter. Wägt man die hohe intellektuelle Tugend und die platte Idiotie gegeneinander ab, so ist das Ergebnis fast pari. Indem wir uns entschließen, über die Dummheit zu sprechen, würdigen wir also in gewisser Weise dieses halb geniale, halb dumme Geschöpf. Und sobald der Tod näher rückt, wie das bei uns beiden der Fall ist, ist man geneigt zu denken, dass die Idiotie die Tugend überwiegt. Das ist offenbar die beste Art, sich zu trösten. Wenn ein Klempner zu mir kommt, um ein Leck im Bad zu reparieren, wofür er nebenbei viel Geld kassiert, und wenn wir, sobald er fort ist, feststellen, dass das Leck immer noch da ist, werde ich mich trösten, indem ich zu meiner Frau sage: »Das ist ein Idiot, sonst würde er nicht leckende Badewannen reparieren, und das obendrein sehr schlecht. Er wäre Professor für Semiotik an der Universität Bologna.«
J.-C. C.: Das erste, was man entdeckt, wenn man die Dummheit untersucht, ist, dass man selbst ein Dummkopf ist. Man behandelt andere nicht ungestraft als Idioten, ohne zu bemerken, dass ihre Dummheit ein Spiegel ist, den sie uns vorhalten. Ein ständig anwesender Spiegel, genau und treu.
U. E.: Wir sollten nicht dem Paradox des Epimedes verfallen, der sagt, alle Kreter seien Lügner. Da er Kreter ist, ist er ein Lügner. Wenn ein Trottel Ihnen sagt, alle anderen seien Trottel, so verhindert die Tatsache, dass er ein Trottel ist, nicht, dass er Ihnen womöglich die Wahrheit sagt. Wenn er freilich noch hinzusetzt, alle anderen seien Trottel »wie er selbst«, liefert er damit einen Beweis von Intelligenz. Also ist er kein Trottel. Weil die anderen ihr Leben damit zubringen, zu vertuschen, dass sie es sind.
Da besteht auch die Gefahr, einem anderen Paradox zu verfallen, das Owen formuliert hat. Alle Menschen sind Trottel, außer Ihnen und mir. Und Sie, im Grunde genommen, wenn ich es recht bedenke …
J.-C. C.: Unser Geist ist voller Phantasie. Alle Bücher, die wir sammeln, Sie und ich, zeugen von den wirklich schwindelerregenden Ausmaßen der menschlichen Vorstellungswelt. Es ist sehr schwer, diese Maßlosigkeit einerseits vom Wahnsinn und andererseits von Dummheit zu unterscheiden.
U. E.: Da fällt mir noch ein anderes Beispiel für Dummheit ein, und zwar von Neuhaus, dem Autor eines Pamphlets über die Rosenkreuzer, verfasst in der Zeit um 1623, als man sich in Frankreich fragte, ob sie existierten oder nicht. »Allein die Tatsache, dass sie uns ihre Existenz verbergen, ist derBeweis für ihre Existenz«, behauptet der Autor. Der Beweis für ihre Existenz ist, dass sie diese verleugnen.
J.-C. C.: Ein Argument, das ich bereit bin gelten zu lassen.
J.-P. DE T.: Vielleicht könnten wir – das ist ein Vorschlag – die Dummheit als ein altes Übel betrachten, zu dessen Bekämpfung unsere neuen, für alle zugänglichen Technologien etwas beitragen können. Würden Sie dieser optimistischen Diagnose beipflichten?
J.-C. C.: Ich wehre mich dagegen, unsere Epoche pessimistisch zu betrachten. Da macht man es sich zu leicht, das ist gängige Münze. Und doch … Ich zitiere Ihnen die Antwort, die Michel Serres einem Journalisten gab, der ihn, ich weiß nicht mehr, bei welcher Gelegenheit, nach seiner Meinung über die Entscheidung zum Bau des Assuan-Staudamms fragte. Man hatte ein Komitee ins Leben gerufen, dem Wasserbautechniker, Spezialisten für die verschiedenen Baumaterialien,
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