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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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Diese Reportage war eine reine Lüge. Eine mehr.
     
    U. E.: Schon Lew Kuleschow hat gezeigt, auf welche Weise Bilder sich gegenseitig kontaminieren und wie es möglich ist, sie ganz unterschiedliche Dinge aussagen zu lassen. Dasselbe Gesicht eines Mannes, einmal nach dem Anblick eines appetitlich angerichteten Tellers mit Essen gezeigt, dann ein zweites Mal, nachdem man etwas vollkommen Ekelhaftes vorgeführt hat, wird beim Betrachter nicht denselben Eindruck hervorrufen. Im ersten Fall drückt das Gesicht des Mannes Verlangen aus, im zweiten Ekel.
     
    J.-C. C.: Zuletzt sieht das Auge, was die Bilder suggerieren. In Rosemary’s Baby von Pola ń ski haben viele Menschen das monströse Kind schließlich gesehen, weil die Personen, die sich über die Wiege beugen, es beschreiben. Aber Pola ń ski hat es nie gefilmt.
     
    U. E.: Und viele Menschen haben vermutlich in Belle de Jour den Inhalt der berühmten orientalischen Büchse gesehen.
     
    J.-C. C.: Natürlich. Wenn man Buñuel fragte, was darin sei, antwortete er: »Ein Foto von Monsieur Carrière. Deshalb sind die Mädchen so entsetzt.« Eines Tages rief ein Unbekannter wegen des Films bei mir an und fragte, ob ich je in Laos gelebt habe. Ich hatte noch nie einen Fuß dorthin gesetzt und sagte es ihm. Dieselbe Frage an Buñuel, ebensolche Verneinung. Der Mann am Telefon war erstaunt. Ihn erinnerte die besagte Büchse eindeutig an einen alten laotischen Brauch. Ich fragte ihn also, ob er wisse, was sich in der Büchse befindet. »Natürlich!« Darauf ich zu ihm: »Ich bitte Sie, sagen Sie es mir!« Da erklärte er mir, dass damit ein Brauch angedeutet sei, der darin bestehe, dass Frauen sich während des Geschlechtsakts große Skarabäen mit Silberkettchen auf die Klitoris binden, wobei deren Krabbeln ihre Lust verlängert und erhöht. Ich fiel aus allen Wolken und sagte ihm, dass wir niemals daran gedacht hätten, Skarabäen in der Büchse in Belle de Jour einzuschließen. Der Mann legte auf. Und augenblicklich empfand ich eine schreckliche Enttäuschung dabei, zu wissen! Der bittersüße Geschmack des Geheimnisses war mir verlorengegangen.
    All dies, um zu sagen, dass das Bild, auf dem wir häufig etwas anderes sehen als das, was es uns zeigt, noch viel raffinierter lügen kann als das geschriebene oder gesprocheneWort. Wenn wir unser visuelles Gedächtnis intakt bewahren wollen, dann müssen wir den kommenden Generationen unbedingt beibringen, Bilder zu betrachten. Das hat sogar oberste Priorität.
     
    U. E.: Es gibt noch eine andere Form der Zensur, mit der wir heutzutage rechnen müssen. Wir können alle Bücher der Welt aufbewahren, alle digitalen Speicher, sämtliche Archive, aber wenn es zu einer Zivilisationskrise kommt, die dazu führt, dass alle Sprachen, die wir gewählt haben, um diese immense Kultur zu speichern, mit einem Schlag unübersetzbar werden, dann ist dieses Erbe unwiderruflich verloren.
     
    J.-C. C.: Mit der Hieroglyphenschrift ist das so gegangen. Durch den Erlass Theodosius I. aus dem Jahr 380 wurde das Christentum Staatsreligion, die einzige und vorgeschriebene Religion im ganzen Reich. Neben anderen wurden auch die ägyptischen Tempel geschlossen. Die Priester, Kenner und Bewahrer dieser Schrift sahen sich nunmehr außerstande, ihr Wissen weiterzugeben. Sie mussten ihre Götter begraben, mit denen sie seit Jahrtausenden gelebt hatten. Und mit ihren Göttern ihre Kultgegenstände und sogar ihre Sprache. Es genügt eine Generation, um alles verschwinden zu lassen. Und vielleicht für immer.
     
    U. E.: Vierzehn Jahrhunderte hat es gedauert, bis man den Schlüssel zu dieser Sprache wiederentdeckt hat.
     
    J.-P. DE T.: Kommen wir noch einmal kurz auf die Zensur durch Feuer zurück. Wer die Bibliotheken der Antike in Brand setzte, konnte vielleicht meinen, jede Spur der in ihnen verwahrten Manuskripte vernichtet zu haben. Aber seit der Erfindung des Buchdrucks ist das nicht mehr möglich. Ein, zwei, ja, hundert Exemplare eines gedruckten Buches zu verbrennen bedeutet nicht, dass damit das Buch zum Verschwinden gebracht wäre. Weitere Exemplare sind vielleicht noch über zahllose private und öffentliche Bibliotheken verstreut. Wozu dienen dann die modernen Scheiterhaufen, wie jene, die die Nazis angezündet haben?
     
    U. E.: Der Zensor weiß sehr wohl, dass er nicht sämtliche Exemplare des verbotenen Buches zum Verschwinden bringt. Aber das ist eine Art, sich zum Demiurgen zu erheben, der imstande ist, die Welt und eine ganze Weltsicht

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