Die große Zukunft des Buches
den furchtbarsten Zensoren in der Geschichte der Bücher muss man dem Feuer hier wohl einen besonderen Platz einräumen.
U. E.: Natürlich, und da muss man sofort die Scheiterhaufen erwähnen, auf denen die Nazis »entartete« Bücher vernichteten.
J.-C. C.: In Fahrenheit 451 stellte Bradbury sich eine Gesellschaft vor, die das unbequeme Erbe der Bücher loswerden will und beschließt, sie zu verbrennen. 451 Grad Fahrenheit ist exakt die Temperatur, bei der Papier brennt; hier sind es nämlich Feuerwehrleute, die man mit dem Verbrennen der Bücher beauftragt.
U. E.: Fahrenheit 451 ist auch der Titel einer italienischen Radiosendung. Aber hier geht es um das genaue Gegenteil: Ein Hörer ruft an und erklärt, dass er ein bestimmtes Buch nicht finden kann oder verloren hat. Sogleich ruft ein anderer an und sagt, dass er ein Exemplar davon besitzt und bereit ist, es abzugeben. Das ist ein wenig so, wie wenn man ein Buch, nachdem man es gelesen hat, irgendwo liegen lässt, im Kino, in der U-Bahn, damit es jemand anderem Freude bereitet. Wie auch immer, zufälliges oder mit Vorsatz gelegtes Feuer begleitet die Geschichte des Buches von Anfang an. Es wäre unmöglich, sämtliche Bibliotheken aufzuzählen, die in Flammen aufgegangen sind.
J.-C. C.: Das erinnert mich an eine Erfahrung, die ich im Louvre machen durfte. Man sollte ein Gemälde auswählen und kommentieren, nachts, für eine kleine Gruppe von Personen. Ich hatte einen Le Sueur ausgesucht, das ist ein französischer Maler vom Anfang des 17. Jahrhunderts, Die Predigt des Apostels Paulus in Ephesos. Da sieht man Paulus aufrecht auf einer Stele stehend, mit Bart und im langen Gewand. Er trägt ein Gewand: das ist genau derselbe Anblick wie ein Ayatollah von heute, freilich ohne Turban. Glühender Blick. Ein paar Getreue stehen um ihn herum. Unten im Bild kniet mit dem Rücken zum Betrachter ein schwarzer Diener, der Bücher verbrennt. Ich trat näher hin, um herauszufinden, welche Bücher da verbrannt wurden. Auf ein paar halb aufgeschlagenen Seiten konnte man sehen, dass sie mit Zeichnungen und mathematischen Formeln bedeckt waren. Der Sklave, zweifellos ein frisch Bekehrter, verbrannte also die griechische Wissenschaft. Welche direkte oder verborgene Botschaft wollte der Maler uns übermitteln? Ich kann es nicht sagen. Aber das Bild ist trotzdem ungewöhnlich. Der Glaube kommt, die Wissenschaft wird verbrannt. Das ist mehr als Filterung, das ist Liquidation durch die Flammen. Das Quadrat über der Hypotenuse muss für immer verschwinden.
U. E.: Da ist sogar eine rassistische Komponente mit im Spiel, weil die Vernichtung der Bücher einem Schwarzen obliegt. Wir glauben, die Nazis seien mit Sicherheit diejenigen, die die meisten Bücher verbrannt haben. Aber was wissen wir denn davon, was genau sich auf den Kreuzzügen abgespielt hat?
J.-C. C.: Schlimmer noch als die Nazis waren, glaube ich, die Spanier in der Neuen Welt, die ärgsten Totengräber für die Bücher. Und die Mongolen, die auch nicht gerade zimperlich waren.
U. E.: Zu Beginn der Neuzeit war die abendländische Welt mit zwei noch unbekannten Kulturkreisen konfrontiert, den verschiedenen altamerikanischen Kulturen und der chinesischen. China war ein großes Reich, das sich nicht erobern und »kolonisieren« ließ, mit dem man aber Handel treiben konnte. Die Jesuiten zogen hin, nicht um die Chinesen zu bekehren, sondern um den Dialog der Kulturen und der Religionen zu fördern. Im Gegensatz dazu schienen die altamerikanischen Gebiete von blutrünstigen Wilden bevölkert, was Gelegenheit für regelrechte Plünderungsfeldzüge bot bis hin zum schrecklichsten Völkermord. Zur ideologischen Rechtfertigung dieser unterschiedlichen Verhaltensweisen berief man sich im einen wie im andern Fall auf die Natur der jeweiligen Sprachen. Die altamerikanischen Piktogramme definierte man als schlichte Nachahmung der Dinge, bar jeder begrifflichen Würde, während die chinesischen Ideogramme Ideen darstellten, also »philosophischer« waren. Heute wissen wir, dass die piktographische Schrift wesentlich komplexer ist als angenommen. Wie viele piktographische Texte sind auf diese Weise verschwunden?
J.-C. C.: Als sie die Reste großartiger Kulturen auslöschten, waren sich die Spanier nicht im Klaren, dass sie wahre Schätze vernichteten. Aber einige von ihnen, vor allem dieser Bernardino de Sahagún, ein erstaunlicher Mönch, hatten eine Ahnung davon, dass da etwas war, was man besser
Weitere Kostenlose Bücher