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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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im Feuer zu vernichten. Unter dem Vorwand, eine Kultur, die durch gewisse Schriften zersetzt worden ist, zu reinigen und zu erneuern. Es ist kein Zufall, dass die Nazis von »entarteter Literatur« sprechen. Die Verbrennung ist eine Art von ärztlichem Eingriff.
     
    J.-C. C.: Dieses Bild von Veröffentlichung, Verbreitung, Bewahrung und Zerstörung ist in Indien sehr gut in der Gestalt des Gottes Shiva veranschaulicht. Umgeben von einem Feuerkreis, hält er in einer seiner vier Hände die Trommel, nach deren Rhythmus die Welt erschaffen wurde, in der anderen das Feuer, welches das Werk der Schöpfung vernichten wird. Die beiden Hände befinden sich auf derselben Höhe.
     
    U. E.: Da sind wir nicht fern von der Vision Heraklits und der Stoiker. Alles entsteht aus dem Feuer, und das Feuer zerstört alles, damit alles erneut zum Sein gelangen kann. In diesem Sinn hat man es stets vorgezogen, Häretiker zu verbrennen, statt ihnen den Kopf abzuschlagen, was einfacherund weniger kostspielig gewesen wäre. Das ist eine Botschaft an all jene, die dieselben Ideen teilen oder dieselben Bücher besitzen.
     
    J.-C. C.: Nehmen wir den Fall Goebbels, vermutlich der einzige Intellektuelle unter den Nazis, der zugleich auch Bücherliebhaber war. Sie hatten recht mit Ihrer Bemerkung, dass diejenigen, die Bücher verbrennen, sehr wohl wissen, was sie tun. Man muss die Gefährlichkeit eines Textes einschätzen können, um ihn zum Verschwinden bringen zu wollen. Gleichzeitig ist der Zensor kein Narr. Nicht indem er ein paar Exemplare des indizierten Buches verbrennt, bringt er es zum Verschwinden. Das weiß er ganz genau. Aber die Geste ist in höchstem Maß symbolisch. Und vor allem sagt sie den anderen: Ihr habt das Recht, dieses Buch zu verbrennen, zögert nicht, das ist eine gute Tat.
     
    J.-P. DE T.: Das ist wie in Teheran oder sonst wo die Fahne der Vereinigten Staaten zu verbrennen …
     
    J.-C. C.: Natürlich. Eine einzige verbrannte Fahne genügt, um die Entschlossenheit einer Bewegung oder eines Volkes zu verkünden. Und dennoch, wie wir schon mehrfach sahen, gelingt es dem Feuer nie, alles zum Schweigen zu bringen. Sogar bei den Spaniern, die doch alles daransetzten, von mehreren Kulturen jede Spur auszumerzen, versuchten gewisse Mönche, ein paar Stücke zu retten. Der schon erwähnte Bernardino de Sahagún – man kann ihn gar nicht oft genug erwähnen – ließ manchmal von den Azteken selbst heimlich Bücher kopieren, die anderswo ins Feuer geworfen wurden. Und er beauftragte eingeborene Maler damit, sie zu illustrieren. Der Unglückliche hat sein Werk freilich bei seinenLebzeiten nicht mehr veröffentlicht gesehen, weil die Machthaber eines Tages befahlen, seine Schriften zu beschlagnahmen. Naiv, wie er war, bot er sogar an, die Entwürfe mitzuliefern. Glücklicherweise kam es nicht dazu. Denn im Wesentlichen bildeten diese Entwürfe die Grundlage für das, was zwei Jahrhunderte später über die Azteken publiziert werden konnte, und das ist fast alles, was wir wissen.
     
    U. E.: Die Spanier haben sich Zeit genommen, um die Überreste einer Kultur auszulöschen. Aber der Nazismus hatte nur zwölf Jahre!
     
    J.-C. C.: Und Napoleon nur elf. Und Bush vorerst acht. Auch wenn man das nicht vergleichen kann, das ist mir klar. Ich habe mir einmal »den Spaß erlaubt«, ich erwähnte es schon, zwanzig Jahre aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts herauszunehmen, von Hitlers Machtergreifung 1933 bis zum Tod Stalins 1953. Überlegen Sie nur, was in diesen zwanzig Jahren alles passiert ist. Der Zweite Weltkrieg, und um ihn herum, als ob dieser generalisierte Konflikt nicht ausreichen würde, eine Reihe von kleineren Kriegen, vorher, währenddessen und danach: Spanischer Bürgerkrieg, Äthiopien-Krieg, Korea-Krieg, und bestimmt vergesse ich einige. Das ist die Wiederkehr Shivas. Ich habe von zweien seiner vier Hände gesprochen. Alles Erschaffene wird zerstört. Aber die dritte Hand macht die Gebärde des abaya , was so viel heißt wie »Keine Angst«, denn – so die vierte Hand – »dank der Kraft meines Geistes habe ich einen Fuß schon vom Boden gelöst«. Das ist eines der komplexesten Bilder, das die Menschheit uns überliefert und zu deuten gegeben hat. Wenn Sie es mit dem des gekreuzigten Christus vergleichen,dem Bild eines Sterbenden, vor dem unsere Kultur sich verneigt, erscheint dieses letztere doch sehr simpel. Aber vielleicht liegt paradoxerweise eben darin seine Kraft.
     
    U. E.: Ich komme noch einmal auf den

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