Die große Zukunft des Buches
allmählich, dass ein Werk zu schaffen, es zu veröffentlichen, es bekannt zu machen nicht unbedingt das beste Mittel ist, um sich das Andenken der Nachwelt zu sichern …
U. E.: In der Tat. Um sich bekannt zu machen, gibt es natürlich das schöpferische Werk (des Künstlers, des Reichsgründers, des Denkers). Aber wenn man nicht die Befähigung zum Schöpferischen hat, bleibt einem die Zerstörung eines Kunstwerks oder manchmal seiner selbst. Nehmen wir den Fall des Herostratos. Er ist der Nachwelt bekannt, weil er den Artemis-Tempel in Ephesos zerstört hat. Da man wusste, dass er ihn einzig zu dem Zweck in Brand gesetzt hatte, seinenNamen für die Nachwelt zu erhalten, verbot die athenische Regierung, diesen Namen je auszusprechen. Das hat offenbar nicht genügt. Beweis: An den Namen des Herostratos erinnern wir uns, während wir den Namen des Architekten des Tempels in Ephesos vergessen haben. Herostratos hat natürlich zahlreiche Nachahmer gefunden. Unter ihnen muss man die Leute erwähnen, die ins Fernsehen gehen, um zu erzählen, dass sie betrogen wurden. Das ist eine typische Form der Selbstzerstörung. Bloß um in die Schlagzeilen zu kommen, sind sie zu allem bereit. Das ist auch der Serienmörder, der am Ende entdeckt werden will, damit man von ihm redet.
J.-C. C.: Andy Warhol hat diesen Wunsch in seinem berühmten Famous for fifteen minutes in Kunst übersetzt.
U. E.: Das ist derselbe Impuls wie bei dem Kerl, der hinter einer Person steht, die gerade gefilmt wird, und mit den Armen fuchtelt, um gesehen zu werden. Das kommt uns idiotisch vor, aber für ihn ist das der Augenblick seines Ruhms.
J.-C. C.: Programmdirektoren beim Fernsehen bekommen die merkwürdigsten Angebote. Manche Leute erklären sich bereit, sich vor laufender Kamera töten zu lassen. Oder auch nur zu leiden, sich peitschen oder foltern zu lassen. Oder zu zeigen, wie die eigene Ehefrau mit einem anderen schläft. Die Formen des zeitgenössischen Exhibitionismus kennen scheinbar keine Grenzen.
U. E.: Wir in Italien haben eine Fernsehsendung, La Corrida , die Amateuren die Gelegenheit bietet, sich unter den Buhrufen eines entfesselten Publikums zur Schau zu stellen. Jederweiß, dass er dort vernichtet wird, und doch muss die Sendung jedesmal Tausende Anwärter abwimmeln. Sehr wenige machen sich Illusionen über ihr Talent, aber hier wird ihnen die einmalige Chance geboten, von Millionen Menschen gesehen zu werden, und dafür sind sie zu allem bereit.
All die Bücher, die wir nicht gelesen haben
J.-P. DE T.: Sie haben im Lauf dieser Unterhaltung zahlreiche Titel erwähnt, die unterschiedlichsten und erstaunlichsten, aber gestatten Sie eine Frage: Haben Sie diese Werke alle gelesen? Muss ein gebildeter Mensch die Bücher, die er kennen sollte, notwendigerweise gelesen haben? Oder genügt es, dass er sich eine Meinung darüber bildet, die ihn, einmal konsolidiert, für immer davon entbindet, sie zu lesen? Ich nehme an, Sie kennen Pierre Bayard und sein Werk Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat . Erzählen Sie mir also von den Büchern, die Sie nicht gelesen haben.
U. E.: Wenn Sie nichts dagegen haben, fange ich an. Ich habe in New York an einer Diskussionsrunde mit Pierre Bayard teilgenommen, und ich finde, er sagt sehr richtige Dinge zu diesen Fragen. Es gibt mehr Bücher auf der Welt, als wir Zeit zur Verfügung haben, sie zur Kenntnis zu nehmen. Es geht gar nicht einmal darum, sämtliche Bücher zu lesen, die produziert werden, sondern nur die für eine bestimmte Kultur repräsentativen Bücher. Wir sind also zutiefst beeinflusst von Büchern, die wir nicht die Zeit hatten zu lesen. Wer hat Finnegan’s Wake wirklich gelesen, ich meine, vom ersten bis zum letzten Wort? Wer hat die Bibel wirklich gelesen, von der Genesis bis zu Apokalypse? Wenn ich die Auszüge, die ich gelesen habe, alle zusammennehme, kann ich mich rühmen, ein gutes Drittel davon gelesen zu haben. Mehr nicht. Trotzdem habe ich eine ziemlich genaue Vorstellung von dem, was ich nicht gelesen habe.
Ich gestehe, dass ich Krieg und Frieden erst mit vierzig gelesen habe. Aber das Wesentliche davon wusste ich bereits vorher. Sie haben das Mahabharata zitiert: nie gelesen, auch wenn ich drei Ausgaben in verschiedenen Sprachen davon besitze. Wer hat Tausendundeine Nacht von der ersten bis zur letzten Seite gelesen? Wer hat das Kamasutra wirklich gelesen? Trotzdem kann alle Welt darüber reden und können einige es sogar
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