Die große Zukunft des Buches
praktizieren. Die Welt ist also voller Bücher, die wir nicht gelesen haben, über die wir aber fast alles wissen. Die Frage ist daher, auf welche Weise wir diese Bücher kennen. Bayard sagt, er habe den Ulysses von Joyce nie gelesen, sei aber imstande, vor seinen Studenten darüber zu sprechen. Er kann sagen, das Buch erzählt eine Geschichte, die sich im Lauf eines Tages abspielt, Schauplatz ist Dublin, der Protagonist ein Jude, die verwendete Erzähltechnik der innere Monolog und so weiter. Und all diese Angaben sind, selbst wenn er das Buch nicht gelesen hat, im strengen Sinn wahr.
Für die Leute, die einen zum ersten Mal besuchen, eine imposante Bibliothek entdecken und nichts Besseres zu sagen wissen als: »Haben Sie das alles gelesen?«, kenne ich mehrere Antworten. Einer meiner Freunde sagt: »Mehr, Monsieur, mehr.«
Ich für mein Teil habe zwei Antworten. Die erste ist: »Nein. Das sind nur die Bücher, die ich nächste Woche lesen muss. Die, die ich schon gelesen habe, sind in der Universität.« Die zweite Antwort lautet: »Ich habe keins dieser Bücher gelesen. Warum würde ich sie sonst hier aufbewahren?« Es gibt selbstverständlich noch viel polemischere Antworten, die den Gesprächspartner noch mehr blamieren oder sogar vor den Kopf stoßen. Die Wahrheit ist, dass wir alle Dutzende, Hunderte oder gar – wenn unsere Bibliothekwirklich imposant ist – Tausende von Büchern bei uns haben, die wir nicht gelesen haben. Und doch geschieht eines Tages, dass wir eins dieser Bücher in die Hand nehmen und feststellen, dass wir es schon kennen. Wie das? Auf welche Weise können wir Bücher kennen, die wir nicht gelesen haben? Es gibt eine erste esoterische Erklärung, die ich nicht teile: Wellen übertragen sich vom Buch auf uns. Zweite Erklärung: Es ist nicht wahr, dass Sie das Buch nie aufgeschlagen haben, im Lauf der Jahre haben Sie es etliche Male umgestellt und sogar durchgeblättert, aber Sie erinnern sich nicht daran. Dritte Antwort: Im Lauf der Jahre haben Sie jede Menge Bücher gelesen, die dieses hier zitieren, so dass es Ihnen zuletzt vertraut geworden ist. Es gibt also mehrere Arten, etwas über die Bücher zu erfahren, die wir nicht gelesen haben. Zum Glück, denn wo sollten wir sonst die Zeit finden, ein und dasselbe Buch viermal zu lesen?
J.-C. C.: Zu den Büchern in unseren Bibliotheken, die wir nicht gelesen haben und bestimmt nie lesen werden: Wahrscheinlich hat jeder von uns die Vorstellung, Bücher irgendwo beiseite zu stellen, mit denen wir eine Verabredung haben, aber später, viel später, vielleicht sogar in einem anderen Leben. Sie ist schrecklich, die Klage der Sterbenden, wenn ihre letzte Stunde gekommen ist und sie feststellen, dass sie Proust noch nicht gelesen haben.
U. E.: Wenn man mich fragt, ob ich dieses oder jenes Buch gelesen habe, antworte ich immer: »Wissen Sie, ich lese nicht, ich schreibe.« Da verstummen alle. Manchmal gibt es hartnäckigere Frager. »Haben Sie Jahrmarkt der Eitelkeiten , den Roman von Thackeray, gelesen?« Ich habe dieser Aufforderung schließlich nachgegeben und drei Anläufe gemacht, denRoman zu lesen. Aber das Buch ist mir immer wieder aus den Händen geglitten.
J.-C. C.: Sie haben mir gerade einen großen Dienst erwiesen, ich hatte mir vorgenommen, den Roman zu lesen. Danke.
U. E.: In meinen Studienjahren in Turin wohnte ich in einem Zimmer im Studentenkolleg. Für eine Lira, die man dem Anführer der Claque zusteckte, ließ er uns ein, und wir konnten uns die Aufführungen des Stadttheaters ansehen. In vier Jahren Universität habe ich sämtliche Meisterwerke des klassischen und zeitgenössischen Theaters gesehen. Aber da das Kolleg seine Pforten um halb eins schloss und die Theaterabende nur selten so früh aus waren, dass wir noch rechtzeitig in unsere Zimmer gekommen wären, habe ich alle Meisterwerke des Theaters ohne die letzten fünf oder zehn Minuten gesehen. Später habe ich Paolo Fabbri kennengelernt, der dann mein Freund wurde. Um sich als Student etwas Geld zu verdienen, arbeitete er als Kartenkontrolleur im Universitätstheater von Urbino. So konnte er die Vorstellung erst verfolgen, wenn alle Besucher im Saal waren, etwa eine Viertelstunde nachdem der Vorhang sich gehoben hatte. Ihm fehlte also der Anfang, mir das Ende. Wir mussten uns unbedingt gegenseitig aushelfen. Wir haben immer davon geträumt, das einmal zu tun.
J.-C. C.: In ähnlicher Weise frage ich mich, ob ich die Filme, die ich glaube gesehen
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