Die große Zukunft des Buches
zu haben, wirklich gesehen habe. Zweifellos habe ich Ausschnitte im Fernsehen gesehen, Werke gelesen, die davon sprachen. Ich kenne die Inhaltsangaben, Freunde haben mir davon erzählt. In meinem Gedächtnis herrscht eine gewisse Verwirrung zwischen Filmen,die ich sicher bin, gesehen zu haben, solchen, die ich sicher bin, nicht gesehen zu haben, und allen anderen. Zum Beispiel Die Nibelungen , der Stummfilm von Fritz Lang: Ich habe die Bilder von Siegfried vor Augen, wie er den Drachen tötet, in einem großartigen, im Studio nachgebauten Wald. Die Bäume wirkten wie aus Zement. Aber habe ich diesen Film gesehen? Oder nur diesen einen Ausschnitt? Dann sind da die Filme, von denen ich sicher bin, dass ich sie nicht gesehen habe, von denen ich aber mit Ihnen reden kann, als hätte ich sie gesehen. Manchmal sogar mit einem Mehr an Autorität. Eines Tages saß ich in Rom zusammen mit Louis Malle und italienischen und französischen Freunden. Es entwickelte sich ein Gespräch über den Film Der Leopard von Visconti. Louis und ich waren unterschiedlicher Meinung, und als Leute vom Fach versuchte jeder, seinen Standpunkt zu behaupten. Einer von uns liebte den Film, der andere hasste ihn, ich weiß nicht mehr, wer dafür und wer dagegen war. Ist auch egal. Die ganze Runde hörte uns zu. Plötzlich kam mir ein Zweifel, und ich fragte Louis: »Hast du diesen Film gesehen?« Er antwortete mir: »Nein. Und du?« – »Ich auch nicht.« Die Leute, die uns zuhörten, waren empört, als ob wir ihnen ihre Zeit gestohlen hätten.
U. E.: Wenn an einer italienischen Universität ein Lehrstuhl vakant ist, tritt eine nationale Berufungskommission zusammen, um die Stelle an den besten Kandidaten zu vergeben. Jedes Kommissionsmitglied bekommt Berge von Veröffentlichungen von sämtlichen Kandidaten zugeschickt. Man erzählt sich die Geschichte von einem dieser Kommissare, in dessen Büro sich die Einsendungen nur so stapelten. Man fragte ihn, wann genau er sich die Zeit nehmen würde, all das zu lesen, und er antwortete: »Ich werde das nie lesen. Ichwill mich doch nicht von Leuten beeinflussen lassen, die ich beurteilen soll.«
J.-C. C.: Recht hatte er. Haben Sie das Buch erst einmal gelesen oder den Film gesehen, sind Sie genötigt, sich Ihre persönliche Meinung zu bilden und dafür einzustehen; solange man dagegen nichts von dem Werk weiß, wird man sich die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Meinungen anderer zunutze machen, man wird sich die besten Argumente heraussuchen, gegen seine natürliche Faulheit ankämpfen und sogar gegen seinen Geschmack, der nicht immer der beste ist …
Aber da ist noch eine andere Schwierigkeit. Ich nehme das Beispiel von Kafkas Schloss , das ich vor Zeiten gelesen habe. Später habe ich zwei sehr freie Verfilmungen des Textes gesehen, darunter den Film von Michael Haneke, die meinen ersten Eindruck natürlich ziemlich verändert und meine Lektüreerinnerungen zwangsläufig durcheinandergebracht haben. Sehe ich Das Schloss jetzt nur noch durch die Augen dieser Regisseure? Sie sagten, die Dramen Shakespeares, die wir heute lesen, sind zwangsläufig reicher als das, was er geschrieben hat, weil diese Stücke all die großen Deutungen und Interpretationen in sich aufgenommen haben, die aufeinander gefolgt sind, seitdem Shakespeares Feder rasch übers Papier kratzte. Und das glaube ich. Shakespeare wird unaufhörlich reicher und stärker.
U. E.: Ich habe schon gesagt, wie die jungen Leute in Italien die Philosophie entdecken, nicht wie in Frankreich durch die philosophische Aktivität, sondern durch die Geschichte der Disziplin. Ich erinnere mich an meinen Philosophielehrer, einen außergewöhnlichen Mann. Ihm habe ich es zu verdanken,dass ich später an der Universität Philosophie studiert habe. Es gibt tatsächlich Elemente der Philosophie, die ich dank seiner Vermittlung verstanden habe. Wahrscheinlich hat dieser hervorragende Lehrer nicht alle Werke lesen können, auf die er in seinem Unterricht Bezug nahm. Das bedeutet also, dass ihm viele der Bücher, von denen er voller Begeisterung und Sachkenntnis sprach, eigentlich unbekannt waren. Er kannte sie nur aus den Philosophiegeschichten.
J.-C. C.: Als Emmanuel Le Roy Ladurie Leiter der Bibliothèque nationale war, hat er eine recht eigenartige statistische Untersuchung durchgeführt. Es gibt über zwei Millionen Titel, die seit Gründung der Bibliothèque nationale in der Folge der Revolution, sagen wir in den 1820er Jahren, bis
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