Die große Zukunft des Buches
mehr eine Art Lesesucht als wirkliches Interesse an dem, was er las. Man hat gesagt, Lesen sei ein straffreies Laster. Dieses Beispiel zeigt, dass es zu einer regelrechten Perversion werden kann. Vielleicht sogar zum Fetischismus.
U. E.: In meiner Kindheit gab es eine Nachbarin, die mir jedes Jahr zu Weihnachten ein Buch schenkte. Eines Tages fragte sie mich: »Sag mal, Umbertino, liest du, um zu erfahren, was in dem Buch steht, das du liest, oder aus Liebe zum Lesen?« Und ich musste zugeben, dass ich nicht immer gefesselt war von dem, was ich las. Ich las aus Lust am Lesen, egal was. Das ist eine der großen Offenbarungen meiner Kindheit!
J.-C. C.: Lesen, um zu lesen, wie leben, um zu leben. Wir kennen auch Leute, die ins Kino gehen, um Filme zu sehen, das heißt in einem gewissen Sinn bewegte Bilder. Manchmal ist es gar nicht wichtig, was der Film zeigt oder erzählt.
J.-P. DE T.: Kann man also so etwas wie Lesesucht feststellen?
J.-C. C.: Natürlich. Dieser Mann in der Metro ist ein Beispiel dafür. Stellen Sie sich jemanden vor, der jeden Tag ein paar Stunden mit Laufen zubringt, dabei aber gar nicht auf die Landschaft achtet, genauso wenig wie auf die Menschen, die ihm begegnen, oder die Luft, die er atmet. Es gibt den puren Akt des Gehens oder Laufens, wie es den puren Aktdes Lesens gibt. Was können Sie sich merken von Büchern, die Sie auf diese Weise gelesen haben? Wie soll man sich an das Gelesene erinnern, wenn man am selben Tag zwei oder drei weitere Bücher überflogen hat? Im Kino gibt es manchmal Zuschauer, die sich drei oder vier Filme am Tag ansehen. Das ist das Los der Journalisten und Jurymitglieder auf Filmfestivals. Schwer, damit zurechtzukommen.
U. E.: Einmal habe ich diese Erfahrung gemacht. Ich war in die Jury des Filmfestivals von Venedig gewählt worden. Ich dachte, ich werde verrückt.
J.-C. C.: Wenn Sie noch benommen aus dem Kinosaal torkeln, nachdem Sie Ihr tägliches Pensum absolviert haben, dann erscheinen Ihnen sogar die Palmen auf der Croisette in Cannes künstlich. Oberstes Ziel ist es nicht, um jeden Preis zu sehen oder zu lesen, sondern aus diesem Tun etwas zu machen und eine substantielle und ergiebige Nahrung daraus zu beziehen. Finden Schnellleser wirklich Geschmack an dem, was sie lesen? Wenn Sie Balzacs lange Schilderungen überspringen, entgeht Ihnen dann nicht genau das, was das tiefste Wesen seines Werkes ausmacht? Das, was nur er allein Ihnen geben kann?
U. E.: Wie die, die in einem Roman nach den Anführungszeichen suchen, wo ein Dialog beginnt. In meiner Jugend konnte es beim Lesen von Abenteuerromanen auch mir passieren, dass ich gewisse Absätze übersprang, um zum nächsten Dialog zu kommen.
Aber fahren wir fort mit unserem Thema, den Büchern, die wir nicht gelesen haben. Es gibt ein Mittel, das Lesen zu fördern, das der Schriftsteller Achille Campanile ersonnenhat. Wie ist der Marquis Fuscaldo zum gelehrtesten Mann seiner Zeit geworden? Von seinem Vater hatte er eine riesige Bibliothek geerbt, aber er pfiff darauf. Als er eines Tages zufällig ein Buch aufschlug, fand er zwischen den Seiten einen Tausendlireschein. Er fragte sich, ob das bei den anderen Büchern wohl auch so sein würde, und verbrachte den Rest seines Lebens damit, alle ererbten Bücher systematisch durchzublättern. Und auf diese Weise ist er ein Ausbund an Wissen geworden.
J.-P. DE T.: »Lesen Sie nicht Anatole France!« Hat die Empfehlung einer Lektüre oder das Abraten davon, wie die Surrealisten das praktizierten, nicht zur Folge, dass die Aufmerksamkeit auf Werke gelenkt wird, die man ohne diesen Hinweis niemals die Absicht gehabt hätte zu lesen?
U. E.: Die Surrealisten waren nicht die einzigen, die von der Lektüre bestimmter Autoren oder bestimmter Bücher abrieten. Es handelt sich hier um ein Genre der Kritik, das zweifellos schon seit eh und je existiert.
J.-C. C.: Breton hatte eine Liste von zu lesenden Autoren aufgestellt und von solchen, die man nicht lesen sollte. Lesen Sie Rimbaud, lesen Sie nicht Verlaine. Lesen Sie Hugo, lesen Sie nicht Lamartine. Seltsamerweise: Lesen Sie Rabelais, lesen Sie nicht Montaigne. Wenn Sie seine Ratschläge aufs Wort befolgen, gehen Sie vielleicht an einigen interessanten Büchern vorüber. Trotz allem muss ich sagen, dass mir das zum Beispiel die Lektüre von Der große Meaulnes erspart hat.
U. E.: Sie haben Le Grand Meaulnes nicht gelesen? Sie hätten nicht auf Breton hören sollen. Das Buch
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