Die großen Vier
dem Treppenabsatz, aber dicht hinter ihr lauerte unser Dienstmädchen, und so zögerte ich. Vielleicht war sie auch ein Spitzel – die drohenden Worte der Nachricht tanzten vor meinen Augen:«… ihr Leben wird in Gefahr sein.»
Ich betrat das Wohnzimmer, ohne ein Wort zu sagen, nahm das Telegramm und war bereits wieder im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als mir eine Idee kam. Konnte ich nicht irgendein Zeichen hinterlassen, welches meinen Gegnern nicht auffallen und doch meinem Freund einen Hinweis geben würde? Ich stürzte zum Bücherschrank hinüber und riss wahllos vier Bücher heraus, die ich auf dem Boden verteilte. Poirot würde sie sicher sofort bemerken, denn das Durcheinander auf dem Fußboden musste seinen Ordnungssinn beleidigen – außerdem würde er, nach den Titeln der Bände zu urteilen, diese Lektüre zumindest als ungewöhnlich empfinden. Alsdann warf ich eine Schaufel voll Kohlen auf das Feuer und steckte vier Kohlenstücke in das Gitter. So hatte ich denn alles getan, was ich konnte – der Himmel stehe mir bei, dachte ich, dass Poirot meine Zeichen verstehen werde. Dann lief ich eilends wieder hinunter. Der Chinese nahm das Telegramm entgegen, las es, steckte es alsdann in seine Tasche und gab mir durch ein Kopfnicken zu verstehen, dass ich ihm folgen solle. Es war ein langer und beschwerlicher Weg, den er mich führte. Einmal bestiegen wir einen Bus, und dann wieder benutzten wir für eine ganz beträchtliche Strecke die Straßenbahn, jedoch ständig führte uns unser Weg ostwärts. Wir gingen durch mir gänzlich fremde Gegenden, von deren Existenz ich mir nie hätte träumen lassen. Wir mussten uns schließlich ganz in der Nähe der Hafenanlagen befinden, und ich erkannte, dass ich ins Zentrum des Chinesenviertels geführt wurde.
Ich konnte mich des Schauderns nicht erwehren. Mein Begleiter bahnte sich mühsam einen Weg und führte mich kreuz und quer durch breitere und dann wieder engere Straßen, bis er schließlich anhielt und viermal an eine Tür klopfte. Sofort wurde ebenfalls durch einen Chinesen geöffnet, der beiseite trat, um uns durchzulassen. Der Knall der hinter mir zufallenden Tür begrub meine letzten Hoffnungen; nun befand ich mich in den Händen meiner Feinde.
Ein anderer Chinese führte mich einige wacklige Stufen in einen Keller, der mit Ballen und Behältern angefüllt war und einen beißenden Geruch von Gewürzen aus dem Osten ausströmte. Ich fühlte mich umgeben von einer gewissen fernöstlichen Atmosphäre schleichender Verschlagenheit und unheilvoller Undurchsichtigkeit.
Mein Begleiter rollte zwei Behälter beiseite, und ich sah einen niedrigen, tunnelartigen Durchgang in der Mauer. Dann nötigte er mich, voranzugehen. Der Tunnel hatte eine beträchtliche Länge und war zu niedrig, als dass ich darin aufrecht hätte gehen können. Schließlich aber verbreiterte er sich zu einem normalen Durchgang, und etwas später befanden wir uns in einem anderen Keller.
Der Chinese ging voraus, klopfte viermal an eine Mauer, worauf ein Teil der Wand sich lautlos zurückbewegte und einen schmalen Durchlass freigab. Ich ging hindurch und befand mich zu meiner äußersten Verwunderung in einem märchenhaften orientalischen Gemach. Es war ein niedriger, lang gestreckter Raum, mit orientalischen Seidenstoffen reich behangen, hell beleuchtet und erfüllt mit aromatischen Wohlgerüchen. Mit Seide bedeckte Diwane und ausgesuchte kostbare Teppiche bildeten das Mobiliar. Vom Ende des Raumes ertönte eine tiefe Stimme hinter einem Seidenvorhang.
«Hast du unseren verehrten Gast mitgebracht?»
«Er befindet sich hier, Exzellenz», erwiderte mein Begleiter.
«Lass unseren Gast eintreten», war die Antwort.
Im selben Moment wurden die Vorhänge wie von unsichtbarer Hand beiseite gezogen, und ich stand einem mit Kissen bedeckten überdimensionalen Diwan gegenüber, auf welchem ein hagerer Orientale ruhte. Er trug ein prunkvolles chinesisches Gewand und schien, der Länge seiner Fingernägel nach zu urteilen, ein bedeutender Mann zu sein.
«Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen, Hauptmann Hastings», sagte er mit einer einladenden Handbewegung. «Sie entschlossen sich, meiner Aufforderung Folge zu leisten, deshalb freue ich mich, Sie zu sehen.»
«Wer sind Sie?», fragte ich. «Li Chang Yen?»
«Aber keinesfalls, ich bin nur der niederste von des Meisters Bediensteten. Ich führe nur seine Befehle aus, das ist alles – wie es auch die übrigen Bediensteten in anderen Ländern tun –
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