Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Bibliothek und das Arbeitszimmer im Erdgeschoß und Bergers Schlafzimmer im ersten Stock, aber kein Teil des Hauses sollte undurchsucht bleiben.
Eine junge Frau kam hinter dem unglücklichen Fabrice Renaud auf die Treppe. Sie trug Jeans und T-Shirt, und ihre langen dunklen Haare waren morgendlich zerzaust wie die des jungen Mannes. Aber sie sah erheblich gefaßter aus als er.
– Camille Castiglione, sagte sie und reichte Martine die Hand, ich habe Fabrice heute nacht geholfen, das Haus zu hüten.
Sie blinzelte Martine zu, die lächeln mußte.
– Haben Sie einen bestimmten Raum gehütet? fragte sie.
– Sicher, sagte Camille Castiglione ernst, wir haben nach dem blauen Gästezimmer gesehen, das ist das im Erdgeschoß neben der Bibliothek. Es ist sehr wichtig, darauf zu achten, daß die Gästebetten in gutem Zustand sind, verstehen Sie?
Sie blinzelte wieder.
Martine wandte sich an Fabrice Renaud.
– Ich gehe davon aus, daß Ihre Gästezimmerprüfung bedeutet, daß Sie sicher sind, daß Monsieur Berger heute nicht zurückkommt?
Der junge Mann nickte unglücklich.
– Er ist am Samstag gefahren und hat gesagt, er überläßt den Betrieb mir. Er würde mindestens eine Woche weg sein, wahrscheinlich länger, sagte er, und er würde von sich hören lassen, bevor er zurückkommt. Können wir jetzt zu meinem Häuschen gehen?
– Erst noch eine Frage, sagte Martine, wann fuhr Monsieur Berger am Samstag, und was tat er, bevor er fuhr?
– Er fuhr gegen zwölf, glaube ich, sagte Fabrice Renaud, ich war dabei, den Rasen zu mähen, es war dafür inzwischen trocken genug. Am Morgen war er unterwegs, ich glaube, er war ziemlich früh auf, denn als ich gegen neun die Zeitung reinholte, war er nicht da. Er sagte, er hätte einen langen Spaziergang am Fluß gemacht.
Martine war am Morgen, eine halbe Stunde bevor der Wecker klingelte, aufgewacht, munter und energiegeladen, aber mit einem Gefühl unbestimmter Unruhe im Körper. Sie hatte geträumt, kurz bevor sie aufwachte, und noch einmal hatte der Traum von der radelnden Frau und Martines fruchtlosen Versuchen, sie vor der drohenden Gefahr zu warnen, gehandelt. Aber plötzlich hatte die Frau statt dessen mit dem Kind im Arm auf dem Boden gesessen, wie eine Madonna, und Jean-Claude Becker und Annalisa Paolini waren mit Geschenken zu ihr gekommen. Im Traum wollte Martine dagegen protestieren, daß sie nur zwei waren, jeder wußte ja, daß es drei weise Männer sein sollten, die mit Geschenken zum Kind kommen.
Und was bedeutete das? dachte sie, während sie sich die Haare bürstete und Concealer auftrug, um die Ringe unter den Augen zu verdecken. Die vage Unruhe im Körper wurde zu einer strengen, ermahnenden Stimme in ihrem Kopf.Die Aufgabe des Untersuchungsrichters ist es, auch das zu beachten, was für den Verdächtigen spricht, nicht nur das, was gegen ihn spricht, sagte die Stimme.
Ich weiß es, sagte Martine zu ihrer inneren Stimme, aber was gibt es, was für Stéphane Berger spricht? Sein Leben lang hat er alle, die ihm vertraut haben, betrogen und verraten – Nunzia Paolini, Greta Lidelius, die Arbeiter bei Vélo Éclair und sicher bald auch die Angestellten bei Berger Rebar. Er ist Istvan Juhász, und er war bereit zu töten, um zu verbergen …
Um was zu verbergen? Warum sollte es für Berger denn so wichtig sein zu verbergen, daß er früher Istvan Juhász gewesen war? Es war ihr im Grunde nicht klar.
Sie setzte ihren Dialog mit der inneren Stimme fort, während sie etwas hinunterwürgte, das man mit etwas gutem Willen Frühstück nennen konnte, und fuhr auf noch leeren und stillen Straßen zum Justizpalast. Julie kam gleichzeitig mit Martine, so daß sie die Formalitäten um den Haftbefehl für Stéphane Berger erledigen konnten. Martine unterschrieb ihn mit gutem Gewissen.
Doch der Traum und die innere Stimme hatten in ihren Gedanken einen Samen zum Keimen gebracht. Er war schon da, irgendwann während der Voruntersuchung hatte er sich in den dunklen Humus ihres Unterbewußtseins gebohrt, aber jetzt suchte er sich einen Weg ins scharfe, weiße Licht des bewußten Gedankens.
Während Julie mit dem Haftbefehl in den zweiten Stock hinunterging, zog Martine die Akte über den Mord an Fabien Lenormand an sich und las durch, was Nunzia Paolini gesagt hatte, während sie gleichzeitig an die Erzählung von Justin Willemart dachte.
Da war etwas, das ihr nicht entgehen durfte, etwas Wichtiges.
Sie blieb dort tief in Gedanken versunken sitzen. Als Julie anrief
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